Johannes Mand

 

Lese-/Rechtschreibförderung für Migrantenkinder

 

In einer Vielzahl von Studien der letzten Jahre bildet sich immer wieder der Befund ab, dass Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte häufig Probleme im Lesen und Schreiben haben. Derlei Befunde werden in Teilen der wissenschaftlichen Diskussion und häufig auch in den Medien als Hinweis darauf interpretiert, dass wesentliche Ursachen dieser Probleme u.a. auch in der Zweisprachigkeit zu suchen seien, oder dass man diese Probleme über besondere Sprachförderangebote für zweisprachige Kinder angehen könnte oder müsste.

 

Einen besonders starken Einfluss hat in den letzten Jahren die Schwellenhypothese bzw. die Interdependenzhypothese entwickelt. Nach Analyse von Cummings (1989) muss man davon ausgehen, dass das erreichte Niveau der Sprachkenntnisse in der ersten Sprache Auswirkungen auf die Sprachentwicklung in der zweiten Sprache haben kann. Wer eine spezifische Stufe in seiner ersten Sprache nicht erreicht, hat nach dieser Auffassung schlechte Aussichten auch in der zweiten Sprache. 

 

Die Auswirkungen der Zweisprachigkeit auf die Lese/Schreibentwicklung in der Mehrheitssprache erweist sich allerdings nach Befunden einer neueren Literaturrecherche in den Datenbanken ERIC, FIS Bildung und Psyndex als vergleichsweise schlecht erforscht. Zwar lässt sich eine Vielzahl von vor allem englischsprachigen Studien ermitteln, die auf Zusammenhänge zwischen erster und zweiter Sprache schließen lassen. Kinder, die besondere Probleme im Wortschatz ihrer ersten Sprache ausweisen, haben häufig auch Wortschatzprobleme in ihrer zweiten Sprache (z. B.: Daseking u.a. 2008, Proctor u.a. 2009, Hammer u.a. 2009, Gabriele u.a. 2009,  Proctor u.a. 2010, Marchmann 2010). Oder: Kinder, die in ihrer ersten Sprache Probleme haben, Laute aus der gesprochenen Sprache isoliert wahrzunehmen (Phonologische Bewusstheit), haben auch Probleme in der phonologischen Bewusstheit ihrer zweiten Sprache (z. B.: Bialystock 2005, Wang & Lee 2006, Luk & Bialystock 2008, Ibrahim u.a. 2007, Wang 2008, Kim 2009,  Saiegh-Haddad u. a. 2010, Silven & Rubinov 2010).

 

Das Problem an diesen Befunden: Man kann derlei Zusammenhänge auch anders erklären als über die Schwellenhypothese, etwa als Folge sprachübergreifender Kompetenzen oder als Folge besonderer sozialer Verhältnisse.

 

Denn dass z. B. die soziale Lage von Familien ganz erhebliche Auswirkungen auf die Lese/Rechtschreibkompetenzen von Kindern haben kann (Family-Literacy-Variablen), ist seit langer Zeit bekannt (Griffin & Morrision 1990, Evans 2000, Rabkin 2004, Esser 2006, Kalia & Reese 2009, für den deutschen Sprachraum z. B. Wocken 2006). Weitere Zweifel an der Schwellenhypothese säen Untersuchungen, die nur noch geringfügige Leistungsunterschiede zwischen monolingualen und bilingualen Kindern erheben, wenn die soziale Herkunft der jeweiligen Familien kontrolliert wird (also statistisch neutralisiert wird; z. B. Nauck u.a. 1998, Rüesch 1998, Stanat u.a. 2010, Mand 2012). Probleme im Lesen und Schreiben treten also nicht bei allen bilingualen Kindern auf, sondern sie häufen sich vor allem bei bilingualen Kindern aus armen, ungebildeten Familien. Man muss schließlich auch noch die eher bescheidenen Befunde der wenigen Studien beachten, die die Effekte bilingualer Förderung untersuchen (Effektstärken bei 0,45 bis 0,33, also gerade im Bereich eines moderaten Effekts, Slavin & Cheung 2005, 247). Wenn man sich nur auf Studien bezieht, die eine Kontrolle der sozialen Herkunft versuchen, sinken die Effekte gar auf einen statistisch nicht mehr bedeutsamen Mittelwert von 0,165 (Mand 2012, 55). Es sieht also danach aus, als sei es bilingualen Förderkonzeptionen zwar gelungen, viele Anhänger/innen zu sammeln (z. B. Gogolin 2003). Überzeugende Wirksamkeitsnachweise stehen aber trotz Jahrzehnten intensiver Forschung noch immer aus.

 

Auch zu Effekten der Lese/Rechtschreibförderung in der zweiten Sprache gibt es bislang nur wenige Studien. Die Brennpunktstudie  (Mand 2012, 132 ff.) weist darauf hin, dass sich die Rechtschreibentwicklung vor allem russisch-deutschsprachiger bilingualer Kinder, die in ihrer zweiten Sprache alphabetisiert werden, nicht auf grundsätzlich anderen Wegen vollzieht als die Rechtschreibentwicklung monolingualer Kinder. Bilinguale Kinder erwerben z. B. die regelhaften Beziehungen zwischen Lauten und Buchstaben (Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln) ganz offensichtlich auch über das phonetische Schreiben. Sie machen bei dem Versuch, so zu schreiben, wie sie sprechen, zwar anfänglich etwas mehr Rechtschreibfehler als die monolingual deutschsprachigen Schreiber. Aber binnen weniger Monate schneiden sie im Rechtschreiben sogar besser ab als ihre monolingualen Altersgenossen und ihre Rechtschreibleistungen erreichen im Vergleich zur Eichstichprobe des eingesetzten Testverfahrens zumindest durchschnittliche Werte.

 

In der frühen Lese/Rechtschreibförderung mit Migrantenkindern ist es also sinnvoll und hilfreich, besonderes Augenmerk auf eine systematische Vorstellung des Lautinventars der deutschen Sprache zu setzen. Dies betrifft zunächst vor allem die Sprachförderung in den Kindertagesstätten. Denn die phonologische Bewusstheit entwickelt sich in einem Alter, in dem Kinder in Deutschland üblicherweise noch nicht eingeschult sind (ein kostenfrei verfügbares Trainingsprogramm für den Kitabereich unter www.johannes-mand.de/training.htm). Die Wortschatzarbeit ist noch offensichtlicher Aufgabe der Kitas, denn die für die Wortschatzentwicklung besonders bedeutsame Phase beginnt im Alter von zwei Jahren. Wichtiges Element der Wortschatzarbeit ist dabei Befunden von Silven & Rubinov (2010) zufolge die Bilderbucharbeit. Eine gemeinsame, systematische und umfangreiche Bilderbuchbetrachtung sollte entsprechend wesentlicher Bestandteil von Sprachförderangeboten (nicht nur) für bilinguale Kinder sein.

 

Dabei gilt: Je früher Kinder mit ihrer zweiten Sprache Kontakt haben und je umfangreicher der Kontakt mit dieser zweiten Sprache ausfällt, desto besser entwickeln sich auch die Kenntnisse in der zweiten Sprache. Auch wer gute Kenntnisse in zwei Sprachen erreichen will, sollte einen frühen Kontakt mit der zweiten Sprache anstreben. Gibt es eine Mehrheitssprache/Minderheitssprache-Konstellation (also: Eltern und Kind sprechen eine Minderheitssprache, Kind besucht eine Institution, in der die Mehrheit eine andere Sprache spricht), sollte man allerdings darauf achten,  dass der Anteil der zu Hause genutzten Minoritätensprache nicht unter 50 % fällt  (de Houwer 2007).

 

Als insgesamt eher enttäuschend haben sich dagegen Programme erwiesen, die durch Angebote an Eltern versuchen, die Sprachkompetenzen der Kinder zu verbessern  (z. B.: Griffin Morrison 1990,

Evans u. a. 2000, Hammer/Miccio, 2006). Es gibt auch keinen Anlass, Eltern mit unzureichenden Deutschkenntnissen zu empfehlen, ein fehlerhaftes Deutsch als Verkehrssprache in ihrer Familie zu etablieren. Dies verbessert vermutlich nicht die Sprachleistungen ihrer Kinder und führt bestenfalls zu einem etwas rascheren Verlust von angemessenen Kenntnissen der ersten Sprache.

 

In der Grundschule gilt zunächst, dass es sinnvoll ist, die Aneignung von Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln systematisch so zu gestalten, dass sie auch für Kinder fruchtbar ist, die noch nicht alle Phoneme der deutschen Sprache kennen (dies ist nach Rinker 2010 bei türkisch-deutschsprachigen Kindern z. B. ein weit verbreitetes Problem). Auch wenn hier die Forschungslage in diesem Bereich alles andere als befriedigend ist, spricht einiges dafür, bilingualen Kindern frühe Gelegenheit zu freiem Schreiben zu geben. Weiter empfiehlt sich, wirklich alle Medien einzubeziehen (vom Pinsel über die Schreibmaschine bis zum Tablet PC), lebensweltliche Bezüge zu suchen (also Dinge zu behandeln, die für die Kinder und ihre Familien wichtig sind) und die kommunikative Funktion des Schreibens zu betonen (Briefe, Foren, Chat, Messenger, SMS).

 

Gibt es einen Anlass, in der pädagogischen Arbeit mit Migrantenkindern besondere Wege zu gehen?  Inzwischen können derartig viele Kinder in deutschen Schulen eine Migrationsgeschichte vorweisen, dass sprachliche Homogenität eher zur seltenen Ausnahme geworden ist. Kann ja sein, dass vor 30 oder 40 Jahren Bilingualität eine seltene Ausnahmeerscheinung war. Inzwischen ist sie längst zum Regelfall geworden. Forderungen der interkulturellen Pädagogik nach differenzfreundlichen Orientierungen beziehen sich also nicht mehr auf wenige Brennpunktschulen in den Ballungsgebieten Deutschlands, sondern auf fast alle Schulen. Ob und in welcher Hinsicht derlei pädagogische Leitideen allerdings positive Auswirkungen auf die Sprachentwicklung in der zweiten Sprache haben, ist jedoch bislang kaum erforscht. Aber man kann vermutlich kaum Einwände haben, dass an Schulen der kulturell-sprachlicher Vielfalt wertschätzend begegnet wird, dass Lehrer/innen eine fördernde Haltung einnehmen und  von Rassismus betroffene Schüler/innen explizit unterstützen (Dirim/Mecheril 2010, 140 ff.).

 

Zusammenfassend betrachtet gibt es also nur überschaubare Hinweise darauf, dass Bilingualität als eine besondere Herausforderung an die Methoden der Lese-/Rechtschreibförderung betrachtet werden muss. Bilinguale Kinder können durchaus mit Erfolg in ihrer zweiten Sprache alphabetisiert werden. Die Gemeinsamkeiten überwiegen ganz offensichtlich deutlich. Neuere Befunde lassen darauf schließen, dass die wesentlichen Herausforderungen nicht aus dem Umstand erwachsen, dass Kinder in ihrer zweiten Sprache lesen und schreiben lernen. Sondern die besondere pädagogische Herausforderung besteht darin, dass bilinguale Kinder in deutschen Schulen sehr häufig Kinder aus armen, ungebildeten Familien sind.

 

 

Literatur:

 

Bialystok, E./McBride-Chang, C./Luk, G.: Bilingualism, Language Proficiency, and Learning to Read in Two Writing Systems. In: Journal of Educational Psychology 97 (2005), 580 – 590

Dirim, I,/Mecheril, P.: Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecherill, P./Varela, M. C., Dirim, I./Kalpaka, A./Melter, C.:Migrationspädagogik. Weinheim 2010, 99 – 120

Cummins, J.: Linguistic Interdependence and the Educational Development of Bilingual Children. In: Review of Educational Research 49 (1979), 222–251

Daseking, M./Lipsius, M./PetermaDirim, I,/Mecheril, P.: Die Sprache(n) der Kindern mit Migrationshintergrund: Befunde zum HAWIK IV. Kindheit und Entwicklung 17 (2008), 76 – 89

Esser, H.: Migration, Sprache und Integration. AKI-Forschungsbilanz 4. Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI). Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Januar 2006

Evans, M. A./Shaw, D./Bell, M.: Home Literacy Activities and their Influence on Early Literacy Skills. In: Canadian Journal of Experimental Psychology 54 (2000), 65 – 75

Gabriele, A./Troseth, E./Martohardjono, G./Otheguy, R.: Emergent Literacy Skills in Bilingual Children: Evidence for the Role of L1 Syntactic Comprehension. In: International Journal of Bilingual Education and Bilingualism 12 (2009), 533 – 547

Gogolin, I./Neumann, U./Roth, H. J.: Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung. Bonn 2003

Griffin, E. A./Morrison, F. J.: The Unique Contribution of Home Literacy Environment to Differences in Early Literary Skills. In Early Child Development and Care 127 – 128 (1997), 233 – 243

Hammer, C./Davison, M. D./Lawrence, F. R./Miccio, A. W.: The Effect of Maternal Language on Bilingual Children's Vocabulary and Emergent Literacy Development during Head Start and Kindergarten. In: Scientific Studies of Reading 13 (2009), 99 – 121

Hammer, C./Miccio, A W.: Early Language and Reading Development of Bilingual Preschoolers from Low-Income Families. In: Topics in Language Disorders 26 (2006), 302 – 337

de Houwer, A.: Parental Language Input Patterns and Children’s Bilingual Use. In: Applied Psycholinguistics 28 ((2007), 411 – 424

Ibrahim, R./Eviatar, Z./Aharon-Peretz, J.: Metalinguistic Awareness and Reading Performance: A Cross Language Comparison. In: Journal of Psycholinguistic Research 36 (2007) 297 – 317

Kim, Y. S.: Crosslinguistic Influence on Phonological Awareness for Korean-English Bilingual Children. In: Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal 22 (2009) 843 – 861

Luk, G./Bialystok, E.: Common and Distinct Cognitive Bases for Reading in English-Cantonese Bilinguals. In: Applied Psycholinguistics 29 (2008), 269 – 289

Mand, J.: Lese-/Rechtschreibförderung für Migrantenkinder. Stuttgart 2012

Marchman, V. A./Fernald, A./Hurtado, N.: How Vocabulary Size in Two Languages Relates to Efficiency in Spoken Word Recognition by Young Spanish-English Bilinguals. In: Journal of Child Language 37 (2010), 817 – 840

Nauck, B./Diefenbach, H./Petri, K.: Intergenerationale Transmission von kulturellem Kapital unter Migrationsbedingungen. In: Zeitschrift für Pädagogik 44 (5/1998), 701 – 722

Proctor, C. P./August, D./Snow, C./Barr, C. D.: The Interdependence Continuum: A Perspective on the Nature of Spanish-English Bilingual Reading Comprehension. In: Bilingual Research Journal 33 (2010), 5 – 20

Proctor, C P./Elaine, M: The Relationship between Cognate Awareness and English Comprehension among Spanish-English Bilingual Fourth Grade Students. In: TESOL Quarterly: A Journal for Teachers of English to Speakers of Other Languages and of Standard English as a Second Dialect 43 (2009),126 – 136

Rabkin, G.: Mütter schreiben Geschichten für ihre Kinder. In: Grundschulunterricht 9/2004, 20 – 22

Rinker, T./Alku, P./Brosch, S./Kiefer, M.: Discrimination of Native and Non-Native Vowel Contrasts in Bilingual Turkish-German and Monolingual German Children: Insight from the Mismatch Negativity ERP Component. In: Brain and Language 113 (2010), 90 – 95

Rüesch, P.: Spielt die Schule eine Rolle? Schulische Bedingungen ungleicher Bildungschancen von Immigrantenkindern. Bern u. a. (Peter Lang) 1998

Saiegh-Haddad, E./Kogan, N./Walters, J: Universal and Language-Specific Constraints on Phonemic Awareness: Evidence from Russian-Hebrew Bilingual Children. In: Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal 23 (2010), 359 – 384

Silven, M./Rubinov, E.: Language and Preliteracy Skills in Bilinguals and Monolinguals at Preschool Age: Effects of Exposure to Richly Inflected Speech from Birth. In: Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal 23 (2010), 385 – 414

Slavin, R. E./Cheung, A.: A Synthesis of Research on Language of Reading Instruction for English Language Learners. In: Review of Educational Research 75 (2005), 247 – 284

Stanat, P./Schwippert, K./Gröhlich, C.: Der Einfluss des Migrantenanteils in Schulklassen auf den Kompetenzerwerb. Längsschnittliche Überprüfung eines umstrittenen Effekts. In: Allemann-

Ghionda, C./Stanat, P./Göbel, K./Röhner, C. (Hrsg.): Migration, Identität, Sprache und Bildungserfolg. Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft 55 (2010), 147 – 164

Wang, M/Anderson, A./Cheng, C./Park, Y./Thomson, J: General Auditory Processing, Chinese Tone Processing, English Phonemic Processing and English Reading Skill: A Comparison between Chinese-English and Korean-English Bilingual Children. In: Reading and Writing:An Interdisciplinary Journal 21 (2008), 627 – 644

Wang, M. P. Y/Lee, K. R.: Korean-English Biliteracy Acquisition: Cross-Language Phonological and Orthographic Transfer. In: Journal of Educational Psychology. 98 (2006), 148 – 158

Wocken, H.: Fördert Förderschule? Vortrag im Rahmen der 20. Integratonsforschertagung in Rheinsberg/Brandenburg. 2/2006 (Bericht im Internet unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/wocken-forschungsbericht.html, Zugriff am 26. 3. 2006)

 

Alle Literaturangaben finden Sie auch unter www.johannes-mand.de/literaturMigra.htm.

 

Kontakt:

 

Prof. Dr. Johannes Mand

e-mail@johannes-mand.de

Januar 2013

 

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Leserechtschreibfoerderung_Mand.php