Fabian van Essen
‚Lernbehinderung‘ und Inklusion
Um die Kategorie ‚Lernbehinderung‘ in die aktuelle Inklusionsdebatte einzuordnen, ist ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs zielführend. Die aus der zunehmenden Industrialisierung resultierende erhöhte Bildungsbeteiligung führte Ende des 19. Jahrhunderts zu sehr großen Volksschulklassen, 80 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse waren keine Ausnahme. Die pädagogische Antwort darauf stellten streng diszipliniertes Schülerinnen- und Schülerverhalten sowie lehrerzentrierter Unterricht dar (vgl. Elbert & Ellinger 2006, 336). Für diejenigen, die die erwarteten Schulleistungen angesichts dieser Rahmenbedingungen nicht erbringen konnten, wurde die Hilfsschule gegründet. Dass die Kinder und Jugendlichen, auf die das zutraf, aus ganz bestimmten sozialen Milieus stammten, wurde zwar damals bereits erkannt: „Je größer die Städte sind, desto mehr setzt sich der Bodensatz der Bevölkerung in ihnen an; desto mehr nackte Armut und Verkommenheit bergen sie. Und gerade diese Schichten sind es, die die meisten schwachbefähigten Kinder liefern“ (Kielhorn 1887, 309). Die Begründung für die schlechten Schulleistungen basierte jedoch auf der biologisch-medizinisch geprägten Annahme eines angeborenen Schwachsinns (vgl. Reichmann-Rohr 1981, 113).
Mit dem ‚Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens‘ der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1960 werden die Vereinheitlichung und die Systematisierung eines ausdifferenzierten Sonderschulsystems angestrebt. In diesem Zusammenhang wird die Hilfsschule in Sonderschule für Lernbehinderte als eine Sonderschule neben anderen umbenannt, z.B. Sonderschule für Körperbehinderte, Sonderschule für Geistigbehinderte usw. Bei dem Begriff ‚Lernbehinderung‘ handelt es sich deshalb um eine schulorganisatorische „administrative Setzung“ (Begemann 1979, 450). Dies zeigt sich etwa daran, dass eine ‚Lernbehinderung‘ mit der Beendigung der Schulzeit ihre Gültigkeit verliert (vgl. Orthmann Bless 2006, 35). ‚Lernbehinderung‘ ist eine deutsche Kategorie, sie „findet sich ansonsten weder in einem der gängigen Klassifikationssysteme (ICD-10; DSM-IV), noch existiert im internationalen Sprachgebrauch ein entsprechender Parallelbegriff“ (Grünke 2004, 65 f.). Das ist problematisch, denn: „Die ‚Lernbehinderten‘-Pädagogik ist (…) bis heute nicht in der Lage, ihren Gegenstand, d.h. das Phänomen ‚Lernbehinderung‘, zu bestimmen“ (Eberwein 1996b, 11). Für Wüllenweber ist ‚Lernbehinderung‘ daher ein „sonderpädagogisches Fehlkonstrukt“ (Wüllenweber 2004, 77), da mit einer ‚Behinderung‘ nach der WHO-Definition die Schädigung von Organen und Funktionen, die Beeinträchtigung durch eingeschränkte Fähigkeiten und die Benachteiligung in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht einhergehe. Auf den Personenkreis der ‚Lernbehinderten‘ sei „bei genauer Betrachtung (…) nur das Kriterium der Benachteiligung anwendbar“ (Wüllenweber 2004, 79). Dennoch wurde ‚Lernbehinderung‘ vor allem als ein Intelligenzdefizit definiert. Besonders prägend war die Begriffsbestimmung von Bach, nach der die Merkmale umfänglich, schwerwiegend und irreversibel konstituierend für das Phänomen ‚Lernbehinderung‘ seien. Damit ist gemeint, dass mehrere schulische Lernbereiche betroffen sein müssen, eine Verbesserung der Leistungen innerhalb von zwei Jahren voraussichtlich nicht erreicht werden kann und die „seelisch-geistige Gesamtsituation um etwa ein bis zwei Sechstel unterhalb des Regelbereichs liegt, sich also im Rahmen dessen befindet, was bei einem IQ von etwa 60/65 bis 80/85 (…) zu erwarten ist“ (Bach 1971, 9). Diese Definition wurde und wird stark kritisiert. Sie impliziere Persönlichkeitsmerkmale, „die einem Verursachungsmodell entspringen, das durch eine organisch-genetisch begründete, invariante, allgemeine Intelligenzausstattung bestimmt ist“ (Eberwein 1997, 15f.). So ist z.B. die Aussagekraft eines ermittelten IQ fragwürdig. Die Angaben zum IQ-Wert, der eine ‚Lernbehinderung‘ definiere, variieren etwa (vgl. Werning & Lütje-Klose 2003, 44). Zudem weisen nach Weiß Schülerinnen und Schüler mit ‚Lernbehinderungen‘ in Bezug auf ihre Intelligenzleistungen eine hohe Streuung von unter 60 bis über 100 IQ-Punkten auf (vgl. Weiß 2003, 2) und es wurden große Überschneidungsbereiche in der Verteilung von IQ-Werten in Sonder- bzw. Förderschulen und Grund- bzw. Hauptschulen festgestellt (vgl. Wocken 2000, 496; Kronig 2007, 26; Heimlich 2009, 21). Außerdem merkt Mand an: „Lernprozesse lassen sich mit Intelligenztests weder zuverlässig vorhersagen noch eignen sich Intelligenztestwerte für die Legitimation von Schullaufbahnentscheidungen“ (Mand 2003, 24). Trotz der Kritik an der Definition von Bach wurde diese in zahlreiche Bildungspläne übernommen.
Unbestritten ist dagegen in der Fachdiskussion mittlerweile, dass die Zuschreibung einer ‚Lernbehinderung‘ in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der etikettierten Schülerinnen und Schüler steht. Sozialstatistische Untersuchungen aus den 1970er Jahren zeigen, dass 80-90% der Schülerinnen und Schüler der damals so genannten Sonderschule für Lernbehinderte einkommensschwachen Familien angehörten (vgl. z.B. Begemann 1968, 1970). Aktuelle Forschungen bestätigen diesen Befund (vgl. z.B. Wocken 2000, 2005; Klein 2001; Koch 2004a, 2004b; Müller 2010). Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen „gehören zu den kulturell und finanziell Ärmsten in Deutschland“ (Dederich 2011, 50) und die „Förderschule ist eine Schule der Armen, der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger“ (Wocken 2000, 501).
Aus diesen Forschungsbefunden heraus lässt sich ableiten, dass ‚Lernbehinderung‘ „Ausdruck der nicht gelungenen und fehlenden Passung zwischen den individuellen Lernmöglichkeiten des Kindes und der normativen Erwartungshaltung von Schule“ (Schmetz 1999, 136) und damit eine schulorganisatorische und relative Größe ist (vgl. Eberwein 1996, 36). In den Fokus gerät damit die Allgemeine Schule, die in Deutschland seit Jahrzehnten als „Mittelklasseninstitution“ (Lütkens 1959, 22), „mittelschichtorientierte Institution“ (Katzenbach & Schroeder 2007, o.S.) oder „Mittelschichtsinstitution“ (Rieger-Ladich 2011, 153) bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass Schule „einen Habitus verlangt und honoriert, wie er im Normalfall in Mittelschichtfamilien ausgebildet wird“ (Baumert & Maaz 2006, 22). Daraus entstehen „bürgerlich-mittelschichtsorientierte Bildungskonzepte“ (Weiß 2010, 19), die nicht anschlussfähig an die Sozialisationserfahrungen von Kindern und Jugendlichen aus unteren sozialen Milieus sind. Dennoch geht der Schulwechsel mit einer Verbesonderung durch die Zuschreibung einer ‚Lernbehinderung‘ bzw. eines Bedarfs im ‚Förderschwerpunkt Lernen‘ einher. Die Begründung für den schulischen Misserfolg findet damit vom allgemeinen Schulsystem weitgehend losgelöst statt. Nicht allgemeine Benachteiligungsmechanismen des allgemeinen Schulsystems seien ausschlaggebend für die Aussonderung, sondern ein individuell diagnostizierbarer besonderer Förderbedarf. Dies wirkt sich auf die Selbstthematisierungen der betroffenen Schülerinnen und Schüler auch noch viele Jahre nach der Beendigung der Schulzeit aus (vgl. van Essen 2013).
Armut und soziale Benachteiligung stellen jedoch vernachlässigte Themen der Integrations- und Inklusionsdebatte dar (vgl. Schumann 2006; Weiß 2006), obwohl integrativer Unterricht „in erheblichem Umfang Unterricht mit benachteiligten Schülern, mit Schülern, die in anderen Kulturen oder Subkulturen sozialisiert wurden“ (Mand 2009, 366) stattfindet. Diese Vernachlässigung ist insofern problematisch, als die Auflösung der Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen ein schulhistorisches Großereignis darstellt. Erstmalig seit über 100 Jahren werden alle Kinder und Jugendlichen aus Armutsverhältnissen in der Allgemeinen Schule unterrichtet. Im Rahmen der anstehenden Transformationsprozesse in Richtung inklusionsorientierte Schule muss dies wesentlich stärker betont werden als bislang, denn: Das Verständnis von ‚Lernbehinderung‘ als genetisch bedingtes Intelligenzdefizit wirkt bis heute in den subjektiven Theorien vieler Pädagoginnen und Pädagogen teilweise massiv nach (vgl. Wüllenweber 2004, 77; Mand 2006, 483). Wenn inklusive Schule nicht zu neuen Exklusionsgefahren für Schülerinnen und Schülern aus Armutsverhältnissen führen soll, müssen unter anderem Sozialraumorientierung sowie Milieu- und Habitussensibilität in der Neuausrichtung schulischer Bildungskonzepte eine wichtige Rolle spielen.
Literatur:
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Fabian van Essen
Januar 2013
Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Lernbehinderung_vEssen.php