Jessica Carlitscheck

Familie im heilpädagogischen Kontext

„Der Kontext des Kindes ist die gesamte Lebenssituation der Familie. Die Lebensgeschichte des Kindes ist die gemeinsam erlebte Geschichte der ganzen Familie“

(Jeltsch-Schudel 2003, S. 105).

 

Die Familie ist der Dreh- und Angelpunkt jeglicher heil- und sonderpädagogischer, auf Inklusion ausgerichteter Bemühungen rund um das Kind mit Behinderung, da die Familie die primäre Erziehungs- und Sozialisationsinstanz darstellt. Derzeit lebt in Deutschland in knapp 3 % der Mehrpersonenhaushalte ein behindertes, minderjähriges Kind (Deutscher Bundestag 2004, S. 135). Da insbesondere geistig oder schwerstmehrfach behinderte Kinder zum Großteil auch im Erwachsenenalter in der Familie verbleiben, ist eine Ausrichtung heilpädagogischer Bemühungen auf die gesamte Familie unerlässlich, um passgenaue Hilfeangebote mit dem Ziel der Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung machen zu können. Wie aber lässt sich „Familie“ definitorisch fassen und welche Dimensionen und Aspekte im familiären Leben mit einem behinderten Kind sind in Bezug auf Teilhabe, Inklusion und Selbstbestimmung zu betrachten?

Das aktuelle wissenschaftliche – heilpädagogische und soziologische – Verständnis der Familie versucht derzeitige gesellschaftliche Entwicklungstendenzen in Bezug auf den familiären Wandel zu begegnen. Im Zuge der seit den 1970er Jahren in vielen westlichen Gesellschaften aufkommenden Individualisierungstendenz ist eine Vielfalt privater Lebensformen entstanden, die den an der traditionellen bürgerlichen Kernfamilie orientierten Familienbegriff erschüttert (Nave-Herz 2003). Die vorherrschende Lebensform ist nicht mehr die bürgerliche Kleinfamilie, sondern die Paarbeziehung mit oder ohne Trauschein. Neben Familien ohne Kinder existieren weitere familiäre Lebensformen wie etwa geschiedene und verwitwete Personen mit und ohne Kinder, Alleinerziehende mit Kind und Stieffamilien durch erneute Heirat  (Coltrane & Collins 2001, S. 135). Folglich attestiert Beck-Gernsheim (2000) der Familie eine „neue Unübersichtlichkeit“, die eine eng umschriebene, eindeutige Definition, was Familie ist und wer dazu gehört, im aktuellen gesellschaftlichen Kontext unmöglich mache (S. 9). Die traditionellen Leitbilder also, die sich an der modernen Kernfamilie mit verheirateten Eltern und dazugehörigen Kindern in einem Haushalt orientieren, scheinen der gesellschaftlichen Realität und Komplexität nicht mehr gerecht zu werden (Beck-Gernsheim 2000), auch nicht der Realität von Familien mit behinderten Kindern.

Folglich kann nicht von einem Zerfall der Familie gesprochen werden. Viele Familienformen stehen heute nebeneinander, die Familie muss lediglich ihr Monopol aufgeben (Beck 1986; Beck-Gernsheim 2000). So schreibt Beck-Gernsheim (2000), dass mehr „[…] Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen“ entständen, welche sie als die „Konturen der postfamilialen Familie“ zeichnet (S. 20). So ist immer dann, wenn das Zusammenleben mit Kindern im Mittelpunkt steht, die Familie nach wie vor die am häufigsten gewählte Lebensform (Heckmann 2004).

Auch aus einer historischen Perspektive zeigt sich eine Pluralisierung familiärer Lebensformen, nicht aber die generelle Auflösung derselben. Es wird deutlich, dass die Familie kontinuierlich im Wandel begriffen ist, also immer eine Gewordene ist. Fortwährend gab es ein Nebeneinander typischer Familienkonstellationen mit mehr oder minder ausgeprägter Dominanz. Familie ist heute „anders, mehr, besser, die Wechselfamilie, die Vielfamilie, die aus Scheidung, Wiederverheiratung, Scheidung, aus Kinder deiner, meiner, unserer Familienvergangenheiten und -gegenwarten hervorgegangen […]“ ist (Beck-Gernsheim 2000, S. 18). So kann allenfalls von einer quantitativen Diversifizierung der Familie, nicht aber von einer generellen Auflösung familiärer Lebensformen gesprochen werden.

So komplex die oben angedeutete familiäre Realität in Deutschland ist, so vielfältig sind auch die Definitionsversuche. Eine einheitliche Definition erscheint nicht möglich, sodass die wissenschaftlichen Definitionen die oben umrissene Pluralität berücksichtigen. Der Familienbegriff wird weiter gefasst, um vom Anspruch her alle Familienformen mit einzubeziehen (Böhnisch & Lenz 1997). So definiert Speck (2003) Familie als einen „Sammelbegriff für die soziale Gebundenheit […], in der ein Kind gemeinhin aufwächst“ (S. 464). Zu einem ähnlichen Definitionsversuch kommen auch Böhnisch und Lenz (1997), wenn sie betonen, dass das zentrale Merkmal von Familie „die Zusammengehörigkeit von zwei (oder mehreren) aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in einer Eltern-Kind-Beziehung stehen“, ist (S. 28). Dabei ist aber nicht mehr die biologische Abstammung zwingend bedeutsam, wie Jetter (2003) betont, sondern dass die einzelnen Mitglieder die Zugehörigkeit zur Familie selbst bestimmten. Durch die oben beschriebene Pluralität familiärer Lebensformen gewinnt dieser Aspekt an Plausibilität.

Hilfreich für den heil- und sonderpädagogischen Kontext ist die systemtheoretische Definition von Familie. Familie wird hier als soziales System aufgefasst, das ein relativ autonomes Teilsystem der Gesellschaft darstellt, welches auf privates und intimes Zusammenleben von Eltern und Kindern spezialisiert ist (Heckmann 2004). Sie zeichnet sich als primäres Netzwerk von meist relativ engen, dauerhaften, vielschichtigen und komplexen, nicht notwendigerweise zielgerichteten, zwischenmenschlichen Beziehungen aus (Nestmann 1997), welches über jeweils spezifische und subjektiv gefärbte Definitionen eingegrenzt ist, wie etwa die „Verwandtschaftsfamilie“, die „Haushaltsfamilie“ oder die „wahrgenommene Familie“ (Neyer & Bien 1993, S. 27). Dieser Aspekt führt dazu, dass Familien mit einem behinderten Kind in der Fachliteratur nicht mehr als „behinderte“ oder „besondere“ Familien angesehen werden können, sondern als eine der vielfältigen Familienformen, die in Deutschland derzeit vorzufinden sind. Auch für die Familie selbst muss die Behinderung des Kindes nicht zwangsläufig dem Merkmal entsprechen, über das sie sich selbst vorrangig definieren würde. Eckert (2008, S. 5) betont, dass die Behinderung des Kindes vielmehr einem von vielen Merkmalen entsprechen kann.

Diese vielfältigen familiären Systeme stehen, um ihre gesellschaftlichen Funktionen und Leistungen erfüllen zu können, in Umweltabhängigkeit zu anderen Systemen innerhalb der Gesellschaft (Heckmann 2004). Wie Luhmann (1970) betont, sind soziale Systeme nicht autark sondern autonom (S.117). Für die Familie bedeutet das, dass sie auf externe Leistungen und Güter, wie etwa aus dem Bildungs- und Wirtschaftssystem oder aus dem System der Hilfen bei Familien mit behinderten Kindern, angewiesen ist. Gleichzeitig ist auch die Gesellschaft auf die Sozialisations-, Reproduktions- und Rekreationsleistungen, die die familiären Systeme erbringen, angewiesen. Diese erstrecken sich von Haushaltsführung und -planung über Kindererziehung und Freizeitgestaltung bis hin zu Krankheitsvorsorge und Betreuung kranker oder behinderter Familienmitglieder (Böhnisch & Lenz 1997, S. 40ff.). Deshalb hat die Familie, wird sie begrifflich offen und weit gefasst im Sinne familiärer Systeme oder familiärer Lebensformen, ihren Stellenwert als Ort des intimen Zusammenlebens und der Sozialisation des Kindes nicht verloren. Insbesondere im Rahmen von Behinderung und chronischer Krankheit attestiert Nestmann (1997) der Familie ein Leistungsspektrum, das kaum zu ersetzen ist. Familie bezeichnet er als „Kern eines sozialen Immunsystems“ eines jeden Menschen (Nestmann 1997, S. 225). Diese Bedeutung von Familien deutet auf ihre zentrale Stellung als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz des Kindes mit Behinderung hin. Dennoch geschieht Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung von Familien mit einem behinderten Kind nicht wie von selbst. Die aktuelle Forschungslage zeigt, dass es einige Aspekte im familiären Leben mit einem behinderten Kind geben kann, die in der Praxis zu berücksichtigen und wissenschaftlich weiter zu erforschen sind, ohne jedoch die Familie zu besondern. Die Ausprägung einzelner, möglicher Besonderheiten kann in Abhängigkeit von vielen Faktoren, z.B. Vorhandensein externer Ressourcen aus dem Hilfesystem, sehr unterschiedlich zwischen Familien aber auch innerhalb der Familie zwischen den Mitgliedern sein. Mit Verbreitung des systemökologischen Paradigmas sind in den letzten Jahren insbesondere folgende Aspekte des familiären Lebens mit einem behinderten Kind in das heil- und sonderpädagogische Blickfeld gerückt:

·        Besonderheiten in der familiären Lebensgestaltung z.B. in der Alltagsgestaltung, die Auseinandersetzung mit eigenen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die Veränderungen sozialer Beziehungen sowie die neuen Aufgaben, die im Zusammenleben mit einem behinderten Kind entstehen können

·        Aspekte der Konfrontation mit der Behinderung des Kindes, d.h. Belastungen im Leben mit einem behinderten Kind und Bewältigungsprozesse.

·        Bedürfnisse und Ressourcen im Prozess der Behinderungsbewältigung

·        Aspekte der Passung und Inanspruchnahme fachlicher Hilfeangebote

(vgl. Eckert 2007, S. 42ff.)

 

Aufgrund der oben genannten definitorischen Aspekte und der vielfältigen Betrachtungsdimensionen ist jede Familie mit einem behinderten Kind individuell im Hinblick auf ihre Bedarfe, Ressourcen und Belastungen theoretisch zu betrachten und praktisch zu fördern, damit Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung als übergeordnete heil- und sonderpädagogische Leitideen, ermöglicht werden.

 

 

Literatur:

BECK, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main

BECK-GERNSHEIM, E. (2000): Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. 2. Auflage. München

BÖHNISCH, L. / LENZ, K. (Hrsg.) (1997): Familien – Eine interdisziplinäre Einführung. Weinheim

COLTRANE, S. / COLLINS, R. (2001): Sociology of Marriage & the Family. Gender, Love and Property. 5. Auflage. Toronto

DEUTSCHER BUNDESTAG (2004): Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe

ECKERT, A. (2007): Familien mit einem behinderten Kind – Zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion. In: Behinderte Menschen 1/2007, S. 40-53

ECKERT, A. (2008): Familie und Behinderung – Studien zur Lebenssituation von Familien mit einem behinderten Kind. Hamburg

HECKMANN, C. (2004): Die Belastungssituation von Familien mit behinderten Kindern. Heidelberg

JELTSCH-SCHUDEL, B. (2003): „Zusammenarbeit von Eltern und Fachleuten – zur Erkennung von Down-Syndrom-Plus“. In: Wilken, U. / Jeltsch-Schudel, B. (Hrsg.): Eltern behinderter Kind. Stuttgart, S. 102-116

JETTER, K. (2003): „Familien heute“. In: Wilken, U. / Jeltsch-Schudel, B. (Hrsg.): Eltern behinderter Kind. Stuttgart, S. 15-42

LUHMANN, N. (1970): Soziologische Aufklärung – Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Köln

NAVE-HERZ, R. (2003): Familie zwischen Tradition und Moderne. Oldenburg

NESTMANN, F. (1997): „Familie als soziales Netzwerk und Familien im sozialen Netzwerk“. In: Böhnisch, L. / Lenz, K. (Hrsg.): Familien – Eine interdisziplinäre Einführung. Weinheim, S. 213-234

NEYER, F.J. / BIEN, W. (1993): „Wer gehört zur Familie?“. In: Psychologie Heute 20 (3), S. 26-28

SPECK, O. (2003): System Heilpädagogik – Eine ökologisch-reflexive Grundlegung.5. Auflage. München

 

Kontakt:

Dipl. Heilpäd. Jessica Carlitscheck

Jessica.Carlitscheck@uni-koeln.de

18. Januar 2011

 

Quellenverweis:  http://www.inklusion-lexikon.de/Familie_Carlitschek.php