Anke Langner

Assistenz

Entstehung und Begriffsdefinition

Assistenzen sind Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung, die vor allem durch die „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ (engl. Independent Living Action) an Bedeutung ge­wonnen haben. Die Geschichte dieser  Bewegung kann als eine der Not- und ­ und Abwehr von Fremdbestimmung betrachtet werden. In erster Linie haben Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und / oder  Lernschwierigkeiten  die durch Goffman (1973) beschriebenen und charakterisierten Mechanismen und Funktionsweisen von "Totalen Institutionen" aus ihrer eigenen Erfahrung heraus stark kritisiert. Die „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ hat im besonderen Maße die strukturellen Gewaltverhält­nisse, die in Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung aufgrund eines ungleichen Verhältnisses zwischen Menschen mit Behinderung herrschen und die nach Bourdieu am Pol der Ohnmacht zu verorten sind kontrovers diskutiert. Ebenso wurden Menschen ohne Behinderung, die  Macht über Menschen mit Behinderung ausüben können, kritisiert und angegriffen.

Aufrechterhalten wird dieses bestehende Gewaltverhältnis durch die gesellschaftlich bestimmende Differenzierung zwischen normal und anormal. Die Zuschreibung des Anormalen impliziert die Aberkennung von und den Ausschluss aus der Normalität. Gegen diese Differenzierung und den damit verbundenen Stigmatisierungs- und Isolationsprozessen von Menschen mit Behinderung spricht sich die „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ aus. Mit der Assistenz setzt sie eine Alternative zu institutionsdominierenden Behinderten­einrichtungen, die  Personen häufig als Objekte degradierend . Darüber hinaus ist es der „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ ein Anliegen, die gesellschaftliche, fachliche und wissenschaftliche Wirklichkeit von 'Normalität' und 'Ausgrenzung' in der Praxis durch ein assistiertes selbstbestimmtes Leben aufzuheben, was  als ein gemeinsamer, notwendigerweise solidarischer und durch die Betroffenen selbst gesteuerter Prozess gekennzeichnet ist.

Im Kontext von Assistenz ist demzufolge auch die Begriffsklärung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung notwendig. Für die „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ bedeutet dies die Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Mit Kontrolle ist das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten zwischen mindestens zwei akzeptablen Alternativen gemeint, was  die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimiert. Für die „Selbstbestimmt Leben Bewegung“ impliziert Selbstbestimmung das Recht auf Selbstregulierung der eigenen Angelegenheiten, wie auch die Teilhabe am öffentlichen Leben und die Möglichkeit zur Wahrnehmung unterschiedlichster sozialer Rollen. Selbstbestimmung sollte aber nicht zu einem Dogma werden. In diesem Sinne ist sie, wie auch die geforderte Unabhängigkeit, ein relatives Konzept, das jedes Individuum für sich selbst bestimmen muss. Einem prozesshaften Verständnis von Selbstbestimmung folgend, handelt es sich nicht um eine Eigenschaft oder ein Programm, sondern Selbstbestimmung muss zwischen verschiedenen Personen ausgehandelt werden. Zugleich impliziert Selbstbestimmung das Soziale, denn sie kann nur im Zusammenleben mit anderen ausgelebt werden. Wie Selbstbestimmung dann aussieht oder  gelebt wird, hängt davon ab, was eine Person für notwendig und wünschenswert erachtet, um ein zufriedenes und für sich sinnvolles Leben führen zu können (Kennedy & Lewin, 2004). Gleichzeitig wird sie  durch die das Individuum umgebenen sozialen Rahmenbedingungen bedingt. Die Selbst­be­stim­mung des Menschen kann demnach nicht als absolute Größe gemessen werden, sondern ist immer in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Individuum und Gemein­schaft zu bestimmen. Zugleich ist dieser Prozess nie abgeschlossen, sondern muss über die gesamte Lebensspanne erarbeitet werden.

Selbstbestimmung ist vom Begriff der „Selbstständigkeit“ zu unterscheiden. Sie charak­terisiert ein Lebensführung ohne fremde Hilfe, schließt jedoch nicht aus, dass diese fremd­bestimmt ist bzw. sein kann. Selbstbestimmung ist auch von dem Begriff der Selbstver­wirk­lichung in seiner negativen Konotierung abzugrenzen, denn es steht nicht die rein egoistische Realisierung eigener Ziele und Wünsche im Vordergrund.

Aus der Sicht der Integration und Inklusion stellen die unterschiedlichen Assistenzformen (Persönliche Assistenz, Arbeitsassistenz,  Advokatorische Assistenz und Berufsausbildungs­assistenz) eine Möglichkeit der Umsetzung des integrativen und inklusiven Zusammenlebens dar. Mit einem Verständnis von Assistenz anstatt bevormundender Praktiken der Hilfe und Pflege, können Menschen mit Behinderung an Mündigkeit gewinnen. Menschen mit Behinderung können dann ein selbstbestimmteres Leben führen, das nach ihren Anforderungen und in ihren Lebensbereichen durch sie  selbst bestellten Personen assistiert wird.

Im besonderen Maße zeichnen sich alle Formen der Assistenz durch das Gelingen der Kommunikation zwischen Zu-Assistierenden und Assistenten aus. Dabei muss betont werden, dass der Assistenzbegriff nicht unabhängig vom Begriff Selbstbestimmung verwendet werden  und auch mit Pflege und Hilfe nicht gleichgesetzt werden sollte. Denn dann würde er weder für die Intentionen der „Selbstbestimmt Leben Bewegung“,  noch  für den Gedanken des inklusiven Zusammenlebens stehen.

 

Persönliche Assistenz

Persönliche Assistenz ist eine mögliche Form der selbstorganisierten Hilfen. Nach „Bizeps“ -  einem Verein der Menschen mit Behinderung hinsichtlich eines selbstbestimmten Lebens berät - soll die Persönliche Assistenz behinderte Menschen in die Lage versetzen, „ihr Leben selbst­bestimmt und in größtmöglicher Unabhängigkeit gestalten zu können. Sie umfasst daher alle Bereiche des täglichen Lebens, in denen Menschen auf Grund ihrer Behinderung Unter­stützung benötigen“ (Bizeps 2009). Die Persönliche Assistenz ist nach dem klassischen Arbeit­nehmerInnenmodell organisiert. Das bedeutet, dass die AssistenznehmerIn zumeist selbstständig eine AssistentIn - zum Beispiel via Inserat - sucht und diese auch anstellt.

Diese Form der Persönlichen Assistenz in Anspruch zu nehmen, schließt eine Reihe von Menschen mit Behinderung aus vor allem jene mit schweren Beeinträchtigungen, da sie Kompetenzen wie die selbstständige Wahrnehmung der Personal-, Anleitungs-, Organisations-, und Finanzkompetenz voraussetzt. Die/ der Assistenz­nehmerIn müssen bzw. können alle auftretenden Entscheidungen das Arbeits­verhältnis betreffend eigenständig entscheiden. Diese notwendigen Kompetenzen können Menschen mit schweren Beeinträchtigungen unter ihren bisherigen Lebensbedingungen meist nur in sehr geringem Maße ausbilden.

 

Advokatorische Assistenz

Die Problematik des Ausschlusses von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen greift Feuser (2006) mit der Forderung nach einer Advokatorischen Assistenz auf. Auch sie dient wie die Persönliche Assistenz der Realisierung der Bedürfnisse des Klienten/ der Klientin jedoch unabhängig von der Schwere ihrer Behinderung. Das Ziel der Advokatorischen Assistenz ist es, die Inanspruchnahme einer Assistenz nicht durch den Fakt der »Selbstständigkeit« sondern durch den Fakt der »Zuständig­keit« zu bestimmen. Die Zuständigkeit kann  nach Steiner (1999) nicht negiert werden, auch wenn Zuständigkeit nicht eigenständig verwirklicht werden kann. "Man muss dann höchstens darüber nach­denken, wie man ihnen helfen kann, diese Zuständigkeit in ihrem Leben umzusetzen" (ebd. S. 109).

Advokatorisches Handeln soll demnach auch Menschen mit schweren Beeinträchtigungen die Möglichkeit schaffen, alternativ handeln zu können. Der so handelnde Assistent/ die Assistentin muss in der Lage sein, Handlungsalternativen zu eröffnen, ohne zu bestimmen, wie zukünftig gehandelt werden soll. Um im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung advo­katorisch zu handeln, bedarf es demnach besonderer fachlicher Kompetenzen. Sie schließen eine fundierte Kenntnis und Analyse der Lebensgeschichte des Assistenznehmers/ der Assistenznehmerin ein und  erfordert eine spezifische fachliche Qualifikation, die dem wissen­schaftlichen Stand des vertretenen Fachgebietes bzw.   Profession entsprechen und der Berufsethik verpflichtet sein muss.

Die Advokatorische Assistenz impliziert stärker als die Persönliche Assistenz und Formen der Arbeitsassistenz die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kompetenz. Auf  Seite der Menschen mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen  setzt sie die notwendige Zuerkennung von Kompetenz, ihr Leben selbst bestimmen zu können, voraus. Auf  Seite der  Advokatorischen AssistentInnen ist sie mit der notwendig auszu­bildenden Kompetenz verbunden,  in einem solch engen Beziehungs- und Kooperationsverhältnis auftauchende strukturelle und indirekte Gewalt reflektieren und thematisieren zu können. 

 

Arbeitsassistenz

Die Arbeitsassistenz bezieht sich  spezifisch auf einen Lebensbereich der Selbst­bestimmung – die Arbeit.  In der Regel wird die Arbeitsassistenz  von Vereinen angeboten, die diese über Fördermittel des Bundes oder des Landes finanzieren. Das Ziel der Arbeits­assistenz ist die Integration von Menschen mit Behinderung auf den freien, sozialver­sicherungspflichtigen Arbeitsmarkt. Die ArbeitsassistentInnen werden in der Regel durch PädagogInnen in ihrer Arbeit begleitet. Für die ArbeitsassistentInnen gibt es keine spezi­fische Ausbildung. Die Arbeitsassistenz wird fast ausschließlich am Arbeitsplatz vollzogen und der/die AssistentIn steht dem /der AssistenznehmerIn unterstützend zur Seite.

In Österreich gibt es 30 Standorte, die nahe zu flächendeckend als Betreuungs- und Beratungsstellen für die Arbeits­assistenz zuständig sind . Sie bieten neben der Assistenz  zur Erlangung und Erhaltung des Arbeitsplatzes auch ein vielfältiges Beratungs­angebot für AssistenznehmerInnen, Angehörige und ArbeitgeberInnen an. Dieses umfasst u.a. die Abklärung von Interessen und Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung,  die Arbeitsplatz­akquisition, die Schaffung möglichst optimaler Arbeitsbedingungen für die/den Assistenz­nehmerIn, die Unterstützung beim Einstieg ins Berufsleben oder die Verbesserung des bestehenden Arbeitsverhältnisses – Arbeitsplatzes.

Viele dieser Arbeitsassistenz­projekte arbeiten jedoch nicht nur regional- sondern auch behinderungsspezifisch. So existieren Arbeitsassistenzprojekte für Menschen mit psychischer Erkrankung, mit Sinnes-, Geistes- oder Körperbehinderung. In Österreich werden die Arbeitsassistenzprojekte unter anderem durch das Bundessozialamt, den Arbeits­marktservice und den Europäischen Sozialfond finanziert.

In Deutschland stellt sich die Situation der Arbeitsassistenz weniger  vielseitig dar. Laut  Sozialgesetzbuch IX (§ 33 Abs. 8 SGB IX sowie § 102 Abs. 4 SGB IX) besteht ein Rechts­anspruch auf die "notwendige Arbeitsassistenz". Durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen wurde diese Definition sowohl hinsichtlich finanzieller Aspekte als auch im Bezug auf bestimmte Formen der Behinderung stark beschränkt, so dass in Folge dessen  Menschen mit Lernschwierigkeiten in Deutschland von der Arbeitsassistenz nahe zu ausgeschlossen werden. Damit verstößt Deutschland gegen die allgemeinen Grundsätze, der seit dem 1.1.2009 in Kraft getretenen UN-Konvention.

Die Hamburger Arbeitsassistenz ist und bleibt hier bezüglich der Assistenz am Arbeitsplatz und der Vermittlung von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Ausnahme. Eine besondere Form der Assistenz am Arbeitsplatz in Form eines betrieblichen Arbeitsplatztrainings ist das Jobcoaching.

 

Integrative Berufsausbildungsassistenz

Für Menschen mit Behinderung, die in ihrer Schullaufbahn einen sonderpädagogischen Förderbedarf erhalten haben, besteht in Österreich die Möglichkeit einer Integrativen Berufs­ausbildungsassistenz. Sie beinhaltet die spezielle Begleitung in der Phase der Berufsausbildung. Eine integrative Berufsausbildung kann in jeder Berufsschule in Anspruch genommen werden. Dies kann entweder  in Form einer verlängerten Lehre geschehen, wobei  die Lehrzeit  um ein oder um zwei Jahre verlängert wird oder in Form einer Teilqualifizierung. Letzteres bedeutet, dass in Ab­stimmung mit dem Fähigkeitsprofil des Lehrlings und der Wirtschaftskammer ein Aus­bildungsprofil innerhalb eines Berufes individuell bestimmt wird. Die Begleitung sowohl in der Berufsschule als auch im Ausbildungsbetrieb wird dann durch die Berufsausbildungs­assistent­Innen gewährleistet. Diese Form der Erlangung eines Berufsab­schlusses folgt sehr stark dem Gedanken der Inklusion.

 

Alle hier charakterisierten Formen der Assistenz setzen den Gedanken der Inklusion bzw. der Integration in die Praxis um.  Sie ermöglichen Menschen mit Beeinträchtigungen eine weniger eingeschränkte, gleichberechtigtere und gleichwertigere Teilhabe am sozialen Austausch und an den gesellschaftlichen Gütern.

 

Kontakt:

Dr. Anke Langner

anke.langner@alumni.hu-berlin.de

August 2009

 

 

 

Literatur/ Links

Feuser, Georg (2006): Advokatorische Assistenz für Menschen mit Autismus-Syndrom und/oder geistiger Behinderung. In:  http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-advokat.html (August 2009)

Goffman, Ervin g(1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer In­sassen. Frankfurt/M. 1973

Hamburger Arbeitsassistenz: www.hamburger-arbeitsassistenz.de (August 2009)

Bizeps:  http://www.bizeps.or.at/bizeps/ (August 2009)

Steiner, Gusti: Selbstbestimmung und Assistenz. In: Gemeinsam leben 7(1999)3, 104-110

Vianova – Verein zur Integration von Menschen mit Behinderung: www.vianova-austria.com (August 2009)

Kennedy, Michael & Lewin, Lori (2004): Was ist Selbstbestimmung und was nicht? IN:  http://bidok.uibk.ac.at/library/kennedy-selbstbestimmung.html?hls=kennedy (August 2009)

 

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Assistenz_Langner.php