Bettina Blanck

Vielfaltskompetenzen

 

Vielfältige Verständnisse und Bewertungen von „Vielfalt“ und „Vielfaltskompetenzen“

Wer genauer bestimmen will, wodurch sich Vielfaltskompetenzen in Bildungszusammenhängen auszeichnen, steht vor der Herausforderung zunächst den Gegenstandsbereich näher zu umreißen. Denn was in einer jeweiligen Gesellschaft (Kultur) und damit auch in ihren Bildungsinstitutionen als „Kompetenzen“ im Umgang mit Vielfalt erachtet wird, hängt mit davon ab, was unter dem Terminus (Wort/Ausdruck) „Vielfalt“ sowie verwandten Termini (wie z. B. „Differenz“, „Diversity“, „Heterogenität“, „Intersektionalität“, „Pluralismus“/„Pluralität“) verstanden und wie jeweilige Vielfalt bewertet wird.

Um ein Beispiel zu geben: Obwohl bei „Vielfalt“ meist an „qualitative Vielfalt“ im Sinne von „Heterogenität“/„Differenz“/„Verschiedenheit“ gedacht werden mag, kann ebenso „quantitative Vielfalt“ etwa im Sinne einer großen Anzahl von Schülerinnen und Schülern in Bildungszusammenhängen zu bedenken sein, wie bei der Frage nach adäquaten Größen von Lern- und Arbeitsgruppen. Es bedarf auch eines kompetenten Umgangs mit quantitativer Vielfalt. Kleine Gruppen müssen z. B. nicht zwingend als besonders vorteilhaft und lernförderlich betrachtet werden. So argumentierte im 17. Jahrhundert Johann Amos Comenius in seiner Didaktik dafür, dass es nicht nur möglich, sondern „sogar nötig“ sei, „daß ein Lehrer (magister) eine Gruppe von etwa hundert Schülern leitet, [...], weil dies für den Lehrenden wie die Lernenden weitaus am angenehmsten ist“ (1993, 122).

Vielfalt in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft hat einen anderen Stellenwert als Vielfalt in z. B. einer Kastengesellschaft oder in einer faschistischen Diktatur. Bildungsgänge, die den Einzelnen individualisierte vielfältige Wege zur Erschließung von Vielfalt eröffnen und in denen Entscheidungs- und Mitbestimmungsfähigkeiten im Umgang mit Vielfalt selbst ein Bildungsziel sind, unterscheiden sich von solchen Bildungsgängen, in denen insbesondere qualitative Vielfalt stark eingeschränkt, Homogenisierung und Uniformisierung verfolgt und eher Gehorsam und die Bereitschaft gefördert werden, Vorgaben mehr oder weniger unkritisch zu übernehmen. Hinzu kommt, dass es je nach Lebensbereichen und Kontexten sehr verschieden sein kann, wer welche Vielfalt in welchem Zusammenhang für sinnvoll oder wenig sinnvoll erachtet und dementsprechend verschiedene Vorstellungen über den kompetenten Umgang mit Vielfalt hat. Vielfaltsberücksichtigung und Vielfaltseinschränkung sind oft eng aufeinander bezogen. Nur weil Schülerinnen und Schüler etwa im Rahmen der zufälligen methodischen Trennung (Krei­enbaum 1996) in verschiedenen Fächern geschlechtergetrennten Unterricht erleben, können sie unter Umständen auch erfahren, dass sie über weitaus mehr Kompetenzen verfügen als sie dies in einer geschlechterheterogenen Gruppe erfahren hätten. Vielfalt/Heterogenität ist also „weder gut noch schlecht, weder einzig zu verdammen noch ausschließlich zu befördern [und; B. B.] … jede Reaktion auf Heterogenität stößt an Grenzen“ (Wenning 2007, 30). Für eine Bestimmung und Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt sind so gesehen reflexiv-kritische Vielfaltskompetenzen im Umgang mit Vielfaltskompetenzen, ihren Möglichkeiten und Grenzen grundlegend.   

 

Verortungen, Herausforderungen und Konzepte für einen kompetenten Umgang mit Vielfalt

Obwohl der Umgang mit Vielfalt mehr oder weniger explizit in allen pädagogischen und didaktischen Konzepten relevant ist,[1] gibt es bislang keinen systematischen Vergleich, der unterschiedliche Verständnisse, Bewertungen und kompetente Umgangsweisen mit Vielfalt selbst als Alternativen bestimmen ließe. Das mag mit daran liegen, dass unterschiedliche Aspekte von Vielfalt auf sehr verschiedene Weisen thematisch sind.

Die Figur des didaktischen Dreiecks[2] bietet eine Möglichkeit, verschiedene Verständnisse über Vielfalt und erforderliche Vielfaltskompetenzen in Bildungszusammenhängen sowie hierauf bezogene Konzepte zu verorten:

(Grundfigur des didaktischen Dreiecks mit Angabe einiger Möglichkeiten, wo Vielfalt vorliegen mag und Vielfaltskompetenzen erforderlich sein können)

 

Differenziert man das didaktische Dreieck mit weiteren Aspekten (z. B. Methoden, Medien) aus und bettet es in jeweilige Kulturen der Lernenden und Lehrenden ein, so lässt sich die Komplexität möglicher Bezugspunkte von Vielfalt und Vielfaltskompetenzen noch umfassender entfalten. Hier können nur exemplarisch wenige der komplexen Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit Vielfalt in Bildungszusammenhängen angedeutet werden.

Lehrenden stellen sich Herausforderungen, wie z. B.: Wie kann mit jeweiliger Vielfalt der Lernenden so umgegangen werden, dass sowohl individuelle als auch gemeinsame Bildungswege möglich sind und die Schülerinnen und Schüler die hierfür erforderlichen Vielfaltskompetenzen entwickeln können? Was bedeutet die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler für die Aufbereitung und Bereitstellung von Lernmaterialien und die Begleitung von Lernprozessen? Um diese Herausforderungen exemplarisch ein wenig zu erläutern: es geht hier z. B. um Fragen adäquater diagnostischer Erfassungsmöglichkeiten von Lernvoraussetzungen, Unterscheidungen zwischen inneren und äußeren Differenzierungsmaßnahmen, »gute« herausfordernde Aufgaben, Methodenvielfalt, individualisierte Leistungsbeurteilungen oder lernförderliche Verbindungen von Vorgabenotwendigkeiten (Instruktionen, Strukturierungen) mit der Eröffnung von entscheidungs- bzw. mitbestimmtem (entdeckenden usw.) Lernen auf eigenen Wegen. Lehrerinnen und Lehrer stellen sich weiterhin Fragen wie: Welche Möglichkeiten gibt es, mit Vielfalt unterschiedlicher Positionen von Eltern oder der Vielfalt im Kollegium umzugehen, etwa mit kontroversen Positionen über ein neues Schulbuch, das Schulprogramm oder die Gestaltung von Mitbestimmungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler?

Konzepte, die auf solche und weitere Fragen Antwortvorschläge geben, lassen sich u. a. danach unterscheiden, ob sie eher umfassend die Frage des Umgangs mit Vielfalt in den Blick nehmen oder sich besonderen Aspekten widmen. Die „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel (1993), die ihr Konzept auch unter den Stichworten „Inklusive Pädagogik“ (2007a) und „Diversity Education“ (2007b) verfolgt, ist ein Beispiel für ein Konzept, das umfassend ansetzt und bezogen auf das didaktische Dreieck vor allem die Heterogenität der Lernenden in den Blick nimmt (siehe Anmerkung 1). Andere Konzepte konzentrieren sich z. B. auf die Heterogenität der Lehrenden (z. B. Altrichter/Messner 2004) oder entwickeln Vorschläge mit Fokus auf einzelne Heterogenitätsdimensionen, wie Konzepte für interkulturelle oder koedukative Pädagogiken. Dabei konkurrieren häufig jeweils verschiedene Ansätze (z. B. für interkulturelle Pädagogiken) miteinander und fordern damit diejenigen heraus, die sich eine verantwortbare eigene Meinung bilden wollen, klärungsförderliche Wege im Umgang mit jeweiliger Vielfalt zu finden.[3]

Auch die Lernenden stehen vor Herausforderungen eines individuellen wie sozialen Umgangs mit z. B. der Vielfalt unterschiedlicher Persönlichkeiten oder aber auch fachlicher/sachlicher Vielfalt. Für erstere brauchen die Schülerinnen und Schüler nicht nur z. B. Vielfaltskompetenzen im Umgang miteinander, sondern ggf. auch Vielfaltskompetenzen im kompetenten Umgang mit einer mehr oder weniger homogenen oder heterogenen Zusammensetzung ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Das gleiche gilt für andere vielfältige widerstreitende Anforderungen z. B. von Eltern oder Mitschülerinnen und Mitschülern. Schließlich ist auch an den Umgang mit intrapsychischer Heterogenität (konkurrierende Motive, „zwei Seelen in einer Brust“) zu denken. Fragen des sozialen Umgangs mit Vielfalt stehen vor allem im Mittelpunkt von Konzepten demokratischer bzw. politischer Bildung, die die Vielfaltskompetenzen als Entscheidungs- bzw. Urteils- und Mitbestimmungskompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördern wollen. Einige Stichworte zu Konzepten, die solche Vielfaltskompetenzen von Schülerinnen und Schüler konkretisieren, sind: Klassenrat, Schülerinnen- und Schülerparlamente, service learning, Konzepte für Streitschlichtung und Mediation, usw. In dem Maße, wie es dabei auch darauf ankommt herauszufinden, ob man zu möglichst gut begründeten gemeinsamen Positionen zu gelangen vermag oder eine aufgeklärte Toleranz geboten ist, mag das Erwägen von problemadäquaten Alternativen an Bedeutung gewinnen (Stichworte: „Kontroversitätsgebot“, „Erwägungsorientierung“, „deliberation in education“, „provokative Didaktik“).  

Für Vielfaltskompetenzen hinsichtlich der Gegenstandsseite seien hier nur die Herausforderung genannt, jeweilige Themen in ihrer Vielfältigkeit angemessen so aufzubereiten, dass den Schülerinnen und Schülern sowohl mehr- bzw. multiperspektivische Zugänge als auch bestehende Kontroversen erschlossen werden. Mit diesen Fragen befassen sich z. B. verschiedene mehr-, viel- und multiperspektivische didaktische und pädagogische Konzepte. Erwägungsorientierte Pädagogik berücksichtigt dabei zusätzlich solche Konstellationen, in denen es keine Differenzen, sondern Konsens zu geben scheint (siehe Stichwort: „Erwägungspädagogik“).

 

Weitere Herausforderungen im reflektiert-kritischen Umgang mit Vielfalt

Neben insbesondere sozialen, fachlichen und methodisch-didaktischen Kompetenzen des Erschließens, Aufbereitens, Bewahrens, ggf. auch Einschränkens von Vielfalt, ist vor allem ein reflexiv-kritischer Umgang mit Vielfalt bedeutsam. Wie oben betont, zeigen sich solche reflexive Vielfaltskompetenzen z. B. darin, jeweilige Vielfalt in bestimmten Bereichen einschränken und Homogenität/Konsens usw. nutzen zu können, um in anderen Bereichen in besonderer Weise Vielfalt berücksichtigen zu können. Zwei Herausforderungen im Umgang mit Vielfalt in Bildungszusammenhängen seien noch hinzugefügt. Die erste betrifft pädagogisches Handeln, welches weitgehend ein Handeln unter Ungewissheiten ist. Schülerinnen und Schüler können z. B. in vielfältiger Weise auf Bildungsangebote reagieren und viele Reaktionen sind nicht vorhersehbar und einplanbar. Sich auf derartige vielfältige Ungewissheiten kompetent einzustellen, macht einen wesentlichen Teil pädagogischer Professionalität aus (Stichworte in diesem Zusammenhang sind z. B. „reflexive Routinen“, „überraschungsoffener Unterricht“, „misslingens-/fehlerfreundliche Lernkultur“ usw.). Die zweite Herausforderung betrifft die Frage der „direkten“ oder „indirekten Thematisierung“ von Vielfalt als Differenz/Heterogenität und mögliche Gefahren der Dramatisierung durch Thematisierung, die dann entgegen einer Absicht wie (z. B. Inklusion) zur Verfestigung von Stereotypen und Ausgrenzung anhand von bestimmten Differenzen führen kann. Ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang ist der „geheime Lehrplan“, der sich etwa dahingehend auswirken kann, dass z. B. eine Lehrerin zwar eigentlich selbst meint und dies verbal vertritt, dass sie Jungen und Mädchen gleichermaßen verschiedene Kompetenzen zutraut, dann jedoch z. B. bei der Verteilung von Aufgaben traditionell stereotyp verfährt. Sich hierüber reflexiv-selbstkritische Vielfaltskompetenzen anzueignen, ist eine lebenslang währende Herausforderung.   

 

Fazit

Angesichts der vielfältigen Facetten und komplexen Zusammenhänge von zu berücksichtigender Vielfalt in Bildungszusammenhängen stellt der reflexiv-kritische Umgang mit verschiedenen Konzepten für Vielfaltskompetenzen zugleich einen lebens- und berufsbegleitenden Ausgang sowie ein Professionalisierungsziel für Lehrende und ein Bildungsziel für Lernende dar.

 

Erwähnte Literatur:

 

(Weitere Literatur zu im Text angesprochenen Konzepten vgl. das Literaturverzeichnis in Blanck 2012.)  

 

Altrichter, Herbert/Messner, Elgrid: Gefahr: Entmischung und Polarisierung. Über den Umgang mit Heterogenität in der Lehrerschaft. In: Becker, Gerold u. a. (Hg.): Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Friedrich Jahresheft 22, 2004, 66-69.

Blanck, Bettina: Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten – Theoretische Grundlagen und Handlungsperspektiven. Stuttgart 2012.

Comenius, Johann Amos: Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Stuttgart 1993.

Kreienbaum, Maria Anna: Kritik zu: 100 Jahre Koedukation – und kein Ende. In: Ethik und Sozialwissenschaften 7(1996)4, 551-553.

Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen 1993.

Prengel, Annedore: Inklusive Pädagogik in der Eingangsstufe. In: Bollier, Claude/Sigrist, Markus (Hg.): Auf dem Weg zu einer integrativen Basisstufe. Integration, Prävention, frühe heilpädagogische Förderung als Auftrag der Basis- und Grundstufe. Luzern 2007a, 47-55.

Prengel, Annedore: Diversity Education – Grundlagen und Probleme der Pädagogik der Vielfalt. In: Krell, Gertraude u. a. (Hg.): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt a. M./New York 2007b, 49-67.

Wenning, Norbert: Heterogenität als Dilemma für Bildungseinrichtungen. In: Boller, Sebastian/Rosowki, Elke/Stroot, Thea (Hg.): Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt. Weinheim/Basel 2007, 21-31.

 

 

Kontakt:

 

PD Dr. Bettina Blanck

Institut für Erziehungswissenschaft / Universität Paderborn

bettina.blanck[at]upb.de

 

März 2013

 

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Vielfaltskompetenzen_Blanck.php



[1] So stellt z. B. Annedore Prengel  fest: „Jede pädagogische Konzeption – sei sie traditionell oder reformorientiert ausgerichtet, aus der Praxis oder aus theoretischen Überlegungen hervorgegangen, schulisch oder ausserschulisch entworfen, für grössere oder kleinere Kinder gedacht – enthält ausgesprochen oder unausgesprochen eine Vorstellung davon, wie mit der Heterogenität der Kinder [...] umzugehen sei“ (2007a, 47).

[2] Zu anderen Darstellungsweisen des didaktischen Dreiecks, erweiterten Fassungen sowie zur Diskussion dieser Figur vgl. Blanck 2012, 2, Anm. 4.

[3] Die Diskussionseinheiten der interdisziplinären Diskussionszeitschrift Erwägen Wissen Ethik (vormals Ethik und Sozialwissenschaften) können hilfreich sein, einen umfassenden Einblick in jeweils zu erwägende Vielfalt an Positionen, Perspektiven, Argumentationen usw. geben. Siehe hierzu die Inhaltsverzeichnisse auf der Homepage: http://groups.uni-paderborn.de/ewe/index.php