Carsten Rensinghoff

Peer Support / Peer Counseling

1. Einleitung

Für die gegenwärtige Diskussion zur Inklusion ist Peer Support und Peer Counseling unverzichtbar. Hierbei handelt es sich um eine betroffenenkontrollierte Unterstützungs- bzw. Beratungsmethode für Betroffene. Wichtig -und ein entscheidendes Kriterium hierbei - ist die Einbeziehung gleichartig Betroffener in den Unterstützungs- und Beratungskontext.

Neben Information und Aufklärung spielt bei vielen Angeboten von Betroffenen für Betroffene auch die geteilte Erfahrung eine sehr wesentliche Rolle (vgl. Utschakowski 2016, 17). Für die Psychiatrieerfahrenen beispielsweise stellt Utschakowski fest, dass sich viele Betroffene – zusätzlich zu einer unaufgeklärten Öffentlichkeit - „gerade von jenen Institutionen, die ihnen helfen sollen, unverstanden und falsch behandelt“ (ebd.) fühlen.

2. Problematisches

Die Situation, wie sie für Menschen mit Behinderung im gegenwärtigen Behindertenhilfesystem anzutreffen ist, lässt sich mit Paulo Freire als Kultur des Schweigens darstellen. Letztgenannter sagt hierzu: „Die ‚Kultur des Schweigens‘, von der ich in der ‚Pädagogik‘ und anderswo rede, ist die Kultur der Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht ausdrücken kann. […] Die Kultur des Schweigens (schlägt – CR) in einem bestimmten Augenblick dialektisch in die Kultur des Lärms um […]. Lärm schlagen: Das heißt nicht reden im eigentlichen Sinn dieses Wortes. Lärm besteht aus den Worten, die wir nicht sagen können, weil uns die historische Praxis fehlt. Lärm ist der Anschein, eine Stimme zu haben, aber solange wir bloß Lärm machen, haben wir keine Stimme. In diesem Sinn ist die Kultur des Lärms eine Kultur des Schweigens“ (Schreiner u.a. 2007, 93).

Für die 36-jährige hochgradig schwerhörige Nicole Friedrich ist das Problematische die kommunikative Barriere (vgl. dies. 2018, 222).

„Viele Betroffene sind unzufrieden mit den professionellen Behandlungsangeboten“ (Utschakowski ebd.). Professionelle Hilfsangebote sind häufig unangemessen und hinderlich für die Genesung (vgl. ebd.) bzw. die Behinderungsverarbeitung.

Aus der psychotherapeutischen Literatur erfahren wir, dass wohl „kaum eine Frau, die einen sexuellen Missbrauch aufarbeiten möchte, in der Ersttherapie zu einem Mann geht“ (Piontek 2019, 47).

 

3. Begriffsklärung

Ottmar Miles-Paul  (1992) hat sich in seiner Definition zum Peer Support an die Study Group on Peer Counseling as a Rehabilitation Ressource (1981) angelehnt: „‘Peer Support ist die Hilfe, die von einer behinderten Person zur Verfügung gestellt wird, die über behinderungsbedingte Erfahrungen und Kenntnisse sowie über Fähigkeiten, mit der eigenen Behinderung umzugehen, verfügt. Sie assistiert anderen behinderten Individuen und entscheidenden anderen Personen im Umgang mit ihren behinderungsspezifischen Erfahrungen‘“ (Miles-Paul 1992, 22).

4. Peer Support vs. Peer Counseling

Beim Peer Support handelt es sich um eine aktive Unterstützung von Menschen mit einer Behinderung, d.h.: Ein Mensch mit Behinderung, der beispielsweise Unterstützung oder Hilfe (vgl. zu support Pons-Großwörterbuch 1981, 663) beim Umgang mit der Behindertenberatung im Sozialamt benötigt, erhält eine Begleitung vom Peer Supportanbieter hin zu dieser Behörde. Dort wird dann mit dem Behördenmitarbeiter, als der entscheidenden anderen Person, ein (möglichst) klärendes Gespräch geführt. Der ratsuchenden Person wird so gewissermaßen der Rücken gestärkt und der paternalistischen Unterdrückung seitens der Nichtbehinderten entgegengewirkt. Diese paternalistische Unterdrückung, die von den Nichtbehinderten ausgeübt wird, ist charakterisiert durch:

-      den Anspruch, die tatsächlichen Interessen der Menschen mit Behinderung besser zu verstehen als diese es selbst können;

-      den Anspruch moralischer Überlegenheit gegenüber den Menschen mit Behinderung und der sich daraus ergebenden letzten Entscheidungsgewalt über deren tatsächliche Interessen;

-      die emotionale Wohltäterschaftsbekundung;

-      das Nachahmen einer Eltern-Kind-Bedziehung;

-      die Kriminalisierung der Menschen mit Behinderung bei Durchbrechen der von den Nichtbehinderten vorgegebenen Grenzen;

-      die Feststellung, ob die Menschen mit Behinderung zum Erhalt von Leistungen oder Zuwendungen überhaupt geeignet sind“ (Jantzen 2001, 65)

Beim Peer Counseling handelt es sich demgegenüber um ein Angebot, das Beratung im engeren Sinne durchführt (vgl. zu counsel Langenscheidts Schulwörterbuch Englisch 1979, 68).

„Die Einbeziehung von Expert*innen in eigener Sache in pädagogische und soziale Prozesse kann gleichzeitig Mittel und Weg sein, den geforderten Paradigmenwechsel zu befördern. Erfahrungswissen ist als unerlässlicher Bestandteil in Lehre, Studium und Hilfsprozesse zu etablieren, da sich die Innenperspektive auf Lebenserschwernisse als Grundlage zeitgemäßer Bemühungen in Hilfszusammenhängen durchsetzen muss“ (Schrimpf 2018, 157).

„Eine Frau, die gerade am Anfang der Familiengründung steht und psychische Probleme bekommt, die geht am liebsten zu einer gleichaltrigen Frau. Da findet sich so eine Art Ähnlichkeitsprinzip (Herv. CR) […]. Viele Personen neigen zu Therapeutinnen und Therapeuten im gleichen Alter und mit demselben Geschlecht“ (Piontek ebd., 48).

Beides, also Peer Support genauso wie Peer Counseling, führen zu Empowerment: Das Ziel ist es, „Menschen das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster einer solidarischen Vernetzung erproben können“ (Herriger 2006, 19).

5. Fazit

Peer Support und Peer Counseling stellen für die Unterstützungs- und Beratungspraxis von Menschen mit Behinderung einen nicht unwesentlichen und ganz entscheidenden Beitrag dar. In diesem Sinne begegnen sich Menschen mit Behinderung, die über einen ähnlichen oder – im günstigsten Fall – den gleichen Erfahrungshintergrund verfügen. Die Hilfe von Betroffenen für Betroffene, die Hilfe von Expertinnen und Experten in eigener Sache geschieht aus einer erlebten Kompetenz heraus. Diese erlebte Kompetenz ist lebensnah, lösungsorientiert und nicht stigmatisierend. Beim professionellen Peer Support sind Menschen mit Behinderung beteiligt, die psychische und/oder physische Traumatisierungen – und traumatisierende Ereignisse unterbrechen die Linie des Kontinuitätserlebens einer Person (vgl. Rensinghoff 2006, 20) -  er- durchlebt haben „und die in ihrer Bewältigung bereits so weit sind, dass sie anderen Menschen in einem professionellen Rahmen Unterstützung anbieten können“ (Utschakowski 2016, 23).

Zum Schluss: Inklusion braucht Peer Support bzw. Peer Counseling. Besser noch: Inklusion braucht v.a. für die Ausbildung der entscheidenden Anderen professionelles Peer Support bzw. professionelles Peer Counseling. (vgl. Friedrich 2018; Rensinghoff 2018; Schrimpf 2018). Zudem sind Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet notwendig, wie Rensinghoff (2020) es in seinem Review zum Peer Research dargestellt hat.

 

 

 

 

Literatur

Friedrich, Nicole: Diagnose einer Hörschädigung – eine Innenperspektive. In: Römer, Susanne (Hg.): Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten – Diagnostik in Dialog und Kooperation. Berlin 2018, 195-222.

Herriger, Norbert: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart ³2006.

Jantzen, Wolfgang: Unterdrückung in Samthandschuhen – Über paternalistische Gewaltausübung (in) der Behindertenpädagogik. In: Müller, Armin (Hg.): Sonderpädagogik provokant. Luzern 2001, 57-68.

Miles-Paul, Ottmar: “Wir sind nicht mehr aufzuhalten.“ Beratung von Behinderten durch Behinderte. Vergleich zwischen den USA und der Bundesrepublik. München 1992.

Langenscheidts Schulwörterbuch Englisch: Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch. Berlin 211979.

Piontek, Rosemarie: „Wir müssen immer auch unser eigenes Geschlecht reflektieren.“ In: Britten, Uwe (Hg.) Herausforderungen der Psychotherapie. 23 Therapeutinnen und Therapeuten im Interview. Gießen 2019, 45-49.

Pons-Großwörterbuch: Collins deutsch-englisch, englisch-deutsch. Stuttgart 1981.

Rensinghoff, Carsten: Zu den psychotraumatischen Ursachen schwerer hirntraumatischer Ereignisse – eine (auto-)biographische Studie. In: Sonderpädagogik 36(2006)16-25.

Ders.: Diagnostik in eigener Sache – Relevanz und Erfahrungen in der Lehre. In: Römer, Susanne (Hg.): Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten – Diagnostik in Dialog und Kooperation. Berlin 2018, 179-193.

Ders.: Review zu Peer Research. In: heilpaedagogik.de 1/2018, URL: https://bhponline.de/download/Zeitung/online-inhalte/2018-01/003_2018-1_Artikel-Resinghoff.pdf [Download: 18.01.2020]

Schreiner, Peter u.a. (Hgg.): Paulo Freire: Unterdrückung und Befreiung. Münster 2007.

Schrimpf, Melanie: Neue Wege gehen – Die Einbeziehung von Expert*innen in eigener Sache in den heilpädagogischen Prozess. In: Römer, Susanne (Hg.): Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten – Diagnostik in Dialog und Kooperation. Berlin 2018, 157-178.

Study Group on Peer Counseling as a Rehabilitation Ressource: Peer Counseling as a Rehabilitation Ressource. Arkansas Rehabilitation Services 1981.

Utschakowski, Jörg: Peer-Support: Gründe, Wirkungen, Herausforderungen. In: ders. u.a. (Hgg.): Experten aus Erfahrung. Peerarbeit in der Psychiatrie. Köln 2016, 16-24.

 

 

 

Kontakt:

Dr. phil. Carsten Rensinghoff

rensinghoffc@gmail.com