Tim Wolfgarten

Othering bzw. VerAnderung

 

‚Othering‘ oder im deutschen ‚VerAnderung‘ sind Begriffe zu einem Konzept, über das sich dem Phänomen sozialer Zuschreibungspraxen genähert wird, bei dem ein vermeintliches wir einem vermeintlich anderen gegenübersteht. Die Konstruktion von Subjekten sowie deren gruppenspezifischer Zuschreibungen geht dabei mit normativen Bewertungen eines Besser- oder Schlechterseins einher und lässt Bezüge zu weiteren Konzepten, wie das zu Stereotype oder Vorurteile, herstellen. Die einschlägigen Differenzlinien, über die zwischen dem vermeintlichen wir und den vermeintlich davon abweichenden Anderen unterschieden wird, beziehen sich vor allem auf das Alter, das Geschlecht und die Sexualität, den Glauben, den Körper, die Klasse, die Nationalität oder das Weiß- bzw. nicht Weißsein. Auch vermeintlich kulturelle Unterschiede tragen das Prinzip von VerAnderung. Die darüber spezifischen Diskriminierungsformen sind dementsprechend u.a. Folgende: Ableismus, Altersdiskriminierung, Klassismus, Rassismus, Sexismus und Heterosexismus. Über Unterformen wie bspw. den antimuslimischen Rassismus oder den Kulturrassismus sind die Diskriminierungspraxen und -strukturen weiter ausdifferenzierbar. Besonders etabliert ist das Konzept von VerAnderung in der Fachliteratur zu Rassismus, da es von Autor*innen innerhalb postkolonialer Studien besonders intensiv bearbeitet wurde (siehe bspw. Said 2019 oder Spivak 1985 sowie im deutschsprachigen Kontext Castro Varela & Dhawan 2020 sowie Reuter 2002).

Zu verorten ist das Prinzip der VerAnderung im Sinne eines Scharniers zwischen den Ebenen des Individuums und der Gesellschaft. Es ist eingebunden in das komplexe Spiel zwischen (gesellschaftlich geteilten) Fremdzuschreibungen, der (individuellen) Selbstwahrnehmung und dem Ausbalancieren ebendieser mitunter konträren Informationen und Orientierungspunkte für das eigene Selbst. Dabei wird der Fokus für das Konzept der VerAnderung vor allem auf die Fremdzuschreibungen, deren Nichtübereinstimmung mit der individuellen Selbstwahrnehmung von marginalisierten Personen sowie deren kollektive Verankerung gerichtet, um diskriminierende Strukturen zu verdeutlichen. Was die kollektive Verankerung auf gesellschaftlicher Ebene betrifft, so sind vielen weitverbreitete Attribute oder Eigenschaften bekannt, die spezifischen gesellschaftlichen Gruppen, wie bspw. Frauen, Muslimen oder Angehörigen der Arbeiter*innenklasse, zugeschrieben werden. Hinsichtlich der individuellen Ebene und der Ausbalancierung von einerseits gesellschaftlich verankerten Zuschreibungen und andererseits dem oftmals positiver wahrgenommenem Selbstbild, ist es Personen und gerade Kindern in der früheren Sozialisationsphase kaum möglich, sich unabhängig der (Fremd-)Attribution zu entwickeln und diese nicht mit in das eigene Selbstkonzept einzubinden. Was die Gruppe der marginalisierten Personen dann verbindet, sind nicht die zugeschriebenen Eigenschaften, sondern vielmehr die Zuschreibungen als solche und das Ringen mit der gesellschaftlichen VerAnderung.

Im schulischen Kontext wurde das Konzept von VerAnderung bisher insbesondere im Rahmen von ungleichen Bildungschancen sowie Lernförderungen und dem Phänomen selbsterfüllender Prophezeiungen berücksichtigt. Unterstrichen wurde dabei, dass nicht alleine die individuellen Kompetenzen der Schüler*innen für den Lernerfolg bzw. -misserfolg verantwortlich sind, sondern auch die unterschiedlichen Ansprachen an die Schüler*innen sowie die dahinterliegenden Vorstellungen von deren – oftmals essentialistisch gedachten – Sein und deren Kompetenzen. Ein prominentes Beispiel dafür bezieht sich auf die z.T. noch immer geschlechtsspezifische Erziehung und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen sowie die mitunter noch immer vorherrschende Meinung über eine unterschiedliche Fähigkeit von Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männern innerhalb des fachbezogenen MINT-Bereichs.

Die Folgen von VerAnderung haben unterschiedliche Reichweiten und können das einzelne Individuum betreffen oder auch die als anders konstruierte Gruppe. So kann bspw. eine Schülerin auf individuell direkter Ebene erfahren, dass sie aufgrund ihres Geschlechts anders in MINT-Fächern wahrgenommen wird und ihr ein anderes Handeln seitens der Lehrperson und/oder den Schüler*innen entgegengebracht wird, was wiederum ein kollektives Verständnis über vermeintliche Geschlechterunterschiede stützt. Das Verwehren sozialer Zugehörigkeit zur scheinbar besseren Norm wird aber auch z.B. über die Frage nach der Herkunft einer nicht weißen Person transportiert bzw. über die Nachfrage nach der „eigentlichen“ Herkunft, wenn die Antwort bspw. Aachen ist und die Person seit der x-ten Generation die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Auch in diesem Beispiel wird der Person die – dabei dann nationale oder vermeintlich kulturelle – Zugehörigkeit zur angeblichen Norm abgesprochen und ihr vermittelt, dass sie zumindest in Teilen nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört: Personen of Color bzw. nicht weiße Menschen sind anscheinend für ihr Leben lang an einen anderen Ort und an eine vermeintlich andere Kultur gebunden. Problematisch wird es vor allem dann, wenn Zuschreibungen auf biologistischen Annahmen beruhen, wie es z.B. die weitverbreitete und rassistische Aussage von „Feuer im Blut haben“ verdeutlicht.

Folgen von VerAnderung zeigen sich aber auch in anderen Lebensbereichen sowie in weitreichenderer Form. So werden bspw. Wohnungsbewerber*innen mit nicht deutschem Namen weitaus seltener zu einem Besichtigungstermin eingeladen als Personen mit einem scheinbar deutschen Namen (siehe expl. Müller 2015). Auch zeigte sich, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund oftmals Empfehlungen zu einer Ausbildung erhalten und ihre Interessen für ein Studium von Beratungsstellen missachtet wurden (siehe z.B. Schulze & Soja 2013). Im Extremfall zeigen sich Folgen von VerAnderung dort bzw. dann, wenn die von der Mehrheitsgesellschaft abweichend konstruierte Gruppe in der Weise diskreditiert wurde und die gruppenspezifischen Attribute der Art negativ aufgeladen sind, dass Täter*innen es für legitim empfinden, mögliche Angehörige der abgewertet konstruierten Gruppe – meist über das äußere Erscheinungsbild identifiziert – zu ermorden. So kürzlich in Halle an der Saale (2019) oder in Hanau (2020). Anders gedeutet sowie markiert zu werden kann im Extremfall tödlich sein und die Angst davor ist bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung vorhanden.

Das Prinzip von „Pars pro toto“ ist diesbezüglich ein wesentlicher Mechanismus, der in der Praxis von VerAnderung greift, und dem sich Norbert Elias (2008) in seiner Studie „Etablierte und Außenseiter“, zusammen durchgeführt mit John Scotson, widmete. Dabei meint „Ein Teil für das Ganze“ stehend, dass auf der einen Seite das Gruppencharisma der Mehrheitsgesellschaft über besonders positive Repräsentant*innen gesteigert wird und auf der anderen Seite die Minorität eine Gruppenschande zugeschrieben bekommt, die vor allem über besonders negativ zu verstehende Repräsentant*innen ihre Konstitution erhält. Wahrgenommene Konflikte zwischen negativen Gruppenzuschreibungen und positiven personenbezogenen Erfahrungen werden dann über die Regel der Ausnahme legitimiert, so bspw. die durchaus bekannten Aussagen, dass die Nachbarin, der Arbeitskollege oder die Schülerin nicht der verAnderten Gruppe entsprächen und eine Ausnahme darstellen würden.

Zwei aufeinander bezugnehmende Konzepte, die konträr zum Mechanismus der VerAnderung stehen und diesen aufzulösen vermögen, sind die zur Intersektionalität (siehe dazu Crenshaw 2018) und zur Transkulturalität (siehe dazu Welsch 1995). In beiden Konzepten wird davon ausgegangen, dass keine der o.g. Differenzlinien das Subjekt vollends in dessen Konstitution determinieren. So sind Aussagen, dass Personen aufgrund einer der o.g. Gruppenzugehörigkeit grundsätzlich eine bestimmte Eigenschaft zukäme oder sie generell auf eine bestimmte Art und Weise handeln würden obsolet. Vielmehr wird von einem lebensweltlichen Bezugssystem ausgegangen, in dem unterschiedliche Subjektkategorien – wie bspw. weiblich, heterosexuell, schwarz und dem Mittelstand angehörig – einander gegenseitig bedingen und allgemeine Rückschlüsse auf die Person nur schwer bis kaum zulassen. Dementsprechend entfällt auch die Hierarchie, anhand der eine einzige Differenzkategorie alle weiteren überlagert und ausnahmslos bestimmt. So gibt es bspw. eine vermutlich stärker ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen einem kürzlich aus Eritrea migrierten Akademiker of Color um die 40 Jahre alt und mir als weißen wissenschaftlichen Mitarbeiter, ebenfalls um die 40 Jahre alt, als zwischen mir und z.B. meiner Großmutter, die zwar dieselbe Nationalität wie ich besitzt, jedoch aufgrund ihres Alters eine andere Sozialisation erfuhr und eine andere lebensweltliche Kultur ausbildete. Bezogen auf das Beispiel ist sodann zu fragen, weshalb die Nationalität eine größere Auswirkung auf die jeweiligen Individuen haben und eine größere Entfremdung zwischen vermutlich zwei sehr ähnlichen Habitus hervorrufen sollte als die Aspekte des Alters, des Geschlechts, oder weitere Kriterien, die oftmals nicht für Deutungs- und Zuschreibungspraxen herangezogen werden.

Mit dem Konzept der Superdiversity (siehe dazu Vertovec 2007) und den daran anschließenden Paradigmen wird ebendieser Aspekt in bezeichnender Weise kritisiert, da über den Begriff unterstrichen wird, dass unzählige Kriterien herangezogen werden müssen – und dies situationsbedingt –, um sich ein annäherndes Bild von einer Person zu machen, dass sich in anderen Kontexten wiederum abweichend zeigen kann. Weil den Deutungen von und den Vorstellungen über andere Personen in pädagogischen Settings jedoch eine bedeutende Relevanz zukommt – sie haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie pädagogische Interaktionen gestaltet werden –, und ebendiese Deutungen durch die Kategorien der o.g. Differenzlinien mitbestimmt werden –  sie als vorgeprägte „Beobachtungsweise“ Wirklichkeiten entstehen lassen –, plädieren u.a. Isabell Diehm (2010) oder Marcus Emmerich und Ulrike Hormel (2013) für einen reflexiven sowie sensibilisierten Umgang mit jenen sozialen Kategorien: Wann wird auf die o.g. sozialen Differenzkategorien zurückgegriffen, in welcher Weise bestimmen sie die Deutung der (pädagogischen) Situation sowie der involvierten Personen, welchen Einfluss haben sie dementsprechend auf die Interaktion und demnach auf die Hervorbringung inkludierter oder vor allem exkludierter Anderer? Und mit Blick auf die Schwerpunktsetzung zum Konzept der VerAnderung sowie mit anderen Worten: Welche Möglichkeitsräume werden den Individuen in pädagogischen Settings zur Verfügung gestellt, in denen sie sich hervorbringen können, und wo werden sie begrenzt, sich als soziales Subjekt uneingeschränkt in der Gesellschaft zu entfalten?

 

 

Literatur

Castro Varela, Maria d. M.; Dhawan, Nikita (2020): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (3. Aufl.). Bielefeld: transcript.

Crenshaw, Kimberle (2018): On intersectionality. The essential writings of Kimberle Crenshaw. New York: New Press.

Diehm, Isabell (2010): Kultur als Beobachtungsweise. In: Darowska, Lucyna; Lüttenberg, Thomas; Machold, Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: transcript, 67–81.

Elias, Norbert; Scotson, John L. (2008): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Ermmerich, Marcus/Hormel, Ulrike (2013): Heterogenität – Diversity – Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS.

Müller, Annekathrin (2015): Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. Strategien zum Nachweis rassistischer Benachteiligungen. Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Wohnungsmarkt_20150615.pdf?__blob=publicationFile [20.03.2020]

Reuter, Julia (2002): Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript.

Said, Edward W. (2019): Orientalismus (6. Aufl.). Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Schulze, Erika; Soja, Eva-Maria (2013): Verschlungene Bildungspfade. Über die Bildungskarrieren von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In: Auernheimer, Georg (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder (5. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS, 193–205.

Spivak, Gayatri C. (1985): The Rani of Sirmur. An essay in reading the archives. In: History and Theory, 24 (3), 247–272.

Vertovec, Steven (2007). Super-diversity and its implications. In: Ethnic and Racial Studies, 30 (6), 1024–1054.

Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. In: Zeitschrift für Kulturaustausch, 45 (1), 39–44.

 

Juli 2020

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