Nina Berlinger & Timo Dexel

Natürliche Differenzierung

Kurzdefinition

Natürliche Differenzierung bezeichnet im schulischen Kontext ein Konzept für Aufgabenstellungen im Fach Mathematik. Konstitutiv ist, dass alle Kinder das gleiche Lernangebot erhalten, dieses ausreichend komplex ist, eine fachliche Rahmung gegeben ist, Schwierigkeitsgrad, Wege, Hilfsmittel und Darstellungsweisen frei vom Kind gewählt werden dürfen und gemeinsames Lernen möglich ist (vgl. Krauthausen & Scherer 2010, S. 5f).

 

Begriffsbestimmung

Das zu erläuternde Konzept impliziert einerseits, dass Lernangebote für Schüler*innen differenziert sind, d.h. dass unterschiedliche Schüler*innen sich auf unterschiedliche Weise mit einem Themenfeld oder völlig anderen Themen auseinandersetzen. Auf der anderen Seite geschieht dies natürlich – die Unterschiedlichkeit scheint nicht verordnet zu sein, sondern von selbst zu passieren. Diese beiden Aspekte sollen folgend genauer beschrieben werden.

 

Üblicherweise ist äußere (Schulstruktur, Förderklassen etc.) von innerer (innerhalb einer Lerngruppe) Differenzierung zu unterscheiden. Innere Differenzierung von Lerninhalten und –wegen gilt v.a. in der Grundschule als Standardrepertoire didaktischen Handelns (Krauthausen & Scherer 2007) und es mangelt nicht an Vorschlägen zur Umsetzung. Gleichzeitig konstatieren Trautmann & Wischer, dass Differenzierungsformen in der Praxis des Sekundarstufenunterrichts kaum verbreitet seien (vgl. 2011). Unabhängig davon lassen sich verschiedene Formen von innerer Differenzierung ausmachen, z.B. können die Menge von Aufgaben, der Schwierigkeitsgrad oder der Organisationsrahmen (Stationenlernen, Kooperative Lernformen etc.) variieren. Käpnick (2014) weist darauf hin, dass die meisten Formen fast vollständig von Lehrer*innen organisiert werden und diese dabei Zuordnungen zu Leistungsgruppen vornehmen. Demgegenüber steht Differenzierung, die den Kindern Eigenverantwortung für ihr Lernen überträgt, sodass die Kinder selbst differenzieren, wie die natürliche Differenzierung. Aus mathematikdidaktischer Perspektive kann dieses Konzept der Differenzierung in die Debatte um offenen Unterricht in der Grundschule eingeordnet werden. Wittmann kritisiert, dass innerhalb dieser Debatte die Öffnung des Unterrichts ausschließlich pädagogisch diskutiert wurde und fordert, dass diese Öffnung auch vom „FACH“ (Großschreibung i.O., NB&TD) aus gedacht werden muss (vgl. Wittmann 1996, S.11). Von der These ausgehend, dass Mathematik ein umfassendes gesellschaftliches Phänomen sei, das vielerlei Bezüge z.B. zur Naturwissenschaft, Technik, Kunst etc. aufweist, erläutert er Öffnung wie folgt:

„Innerhalb fachlicher Rahmungen, die von den untersten Lernstufen aus „mitwachsen" können, lassen sich Problemstellungen und Aufgaben unterschiedlichster Schwierigkeitsgrade formulieren. Diese können von unterschiedlichen Voraussetzungen aus, mit verschiedenen Mitteln, auf unterschiedlichem Niveau und verschieden weit bearbeitet werden. So entsteht auf ganz natürliche Weise Spielraum für Eigeninitiative und Kreativität. Man kann gestellte Probleme abwandeln, sich selbst Probleme stellen oder in der Lebenswelt ausfindig machen. Die Lösungswege sind frei. Wie bestimmte Werkzeuge eingesetzt und die Ergebnisse dargestellt werden, bleibt in hohem Maße dem Problemlöser überlassen. Die mathematische Sprache kann dabei wie jede andere Sprache innerhalb allgemeiner Konventionen und Regeln flexibel benutzt werden.“ (ebd.)

 

Diese Erläuterung entspricht der Bedeutung von natürlich. Entscheidend ist, dass das Fach Mathematik Möglichkeiten zur Öffnung bietet, nicht nur die Organisationsform (z.B. Stationenlernen etc.). Didaktisch wird dies unterschiedlich realisiert, meist jedoch in Form von erweiterten substanziellen Aufgaben. In der Literatur wird dies Lernumgebung (vgl. Hirt & Wäslti 2008) oder offene substanzielle Problem- bzw. Aufgabenfelder (vgl. Benölken 2016; Benölken, Berlinger & Veber 2017) genannt und ist zumindest für die Grundschule ausführlich praktisch ausgearbeitet worden (u.a. Käpnick & Fuchs 2009). Die Grundintention dieser offenen substanziellen Problemfelder besteht darin, natürliche Differenzierungen vom Fach aus zu realisieren (s. auch Wittmann 1996; Häsel-Weide & Nührenbörger 2015; Scherer 2008). Ein solches Problemfeld sollte eine reichhaltige mathematische Substanz enthalten, jedem Kind die Chance bieten, sich erfolgreich mit seiner Erkundung auseinander zu setzen, Neugier und Interesse wecken sowie Offenheit im Hinblick auf die Lösungswege, die Hilfsmittel sowie die Ergebnisdarstellungen bieten (u.a. Benölken, Berlinger & Käpnick 2016).

 

Natürliche Differenzierung im Kontext inklusiver Mathematikdidaktik

Aufgabenfelder dieser Art gelten als ein möglicher Baustein zur didaktischen Realisierung eines inklusiven Mathematikunterrichts (Benölken, Berlinger & Veber 2017). Sie eignen sich in besonderer Weise für den inklusiven Mathematikunterricht, da alle Kinder die Möglichkeit haben, mathematische Entdeckungen zu machen; wobei es jeweils ihre eigene Entscheidung ist bzw. ihren Fähigkeiten und Vorlieben entspricht, wie tief sie in die mathematische Substanz eindringen, auf welche Art und Weise sie das mathematische Problem lösen, welche Teilprobleme sie beschäftigen bzw. interessieren, welche Materialien sie dabei nutzen, auf welcher Repräsentationsebene (enaktiv, ikonisch, symbolisch) sie arbeiten und wie sie ihre Ergebnisse darstellen und präsentieren. Dies bedeutet, dass all diese Entscheidungen nicht von der Lehrkraft getroffen werden, sondern bewusst oder unbewusst vom Kind selbst.

Für den gemeinsamen Mathematikunterricht aller Kinder, bedarf es demnach keiner komplett „neuen“ Fachdidaktik, sondern die Mathematikdidaktik bietet verschiedene bestehende Konzepte, die zur Realisierung eines inklusiven Mathematikunterrichts angepasst und weiterentwickelt werden können (ebd.). Auch wenn die Entwicklung solcher Ansätze gerade erst beginnt, können erste Veröffentlichungen verzeichnet werden (u.a. Käpnick, 2016; Peter-Koop, Rottmann & Lüken 2015). Dabei bieten Fachdidaktiken in Bezug auf die Gestaltung inklusiven Unterrichts nach Lütje-Klose und Miller (2015, S. 20) den großen Vorteil, dass sie „sich aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive dezidiert mit der Analyse des Lerngegenstandes, dem systematischen Wissensaufbau, der Entwicklung des kindlichen Lernstandes und der entsprechenden fachlichen Förderung im Lernprozess (zu) beschäftigen.“ Aus mathematikdidaktischer Perspektive ist es unabdingbar, dass Kinder Mathematik erfahren dürfen; dass sie eigene Entdeckungen machen dürfen und dass sie selbst mathematisch tätig werden. Winter (1996) stellt die für die Mathematikdidaktik elementaren Grunderfahrungen auf:

1.      „Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen,

2.      mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbolen, Bildern und Formeln, als geistige Schöpfungen, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art kennen zu lernen und zu begreifen,

3.      in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die Mathematik hinaus gehen, (heuristische Fähigkeiten) zu erwerben.“ (Winter 1996, S. 35)

 

Erhalten Schüler*innen dagegen von der Lehrkraft besonders einfache bzw. besonders komplexe Aufgaben, die dies nicht ermöglichen, können wichtige Grunderfahrungen nicht gemacht werden.  Durch natürliche Differenzierung alleine ist dies nicht zwangsläufig gegeben, jedoch ist es ohne sie kaum möglich. Um jedoch zugleich Prinzipien zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts gerecht zu werden, sollte zudem die Individualisierung des Lernens, die Schaffung einer solidarischen Gruppenstruktur, die Zusammenarbeit verschiedener Professionen, die Orientierung an der kindlichen Lebenswelt und eine Potenzialorientierung umgesetzt werden (vgl. Lütje-Klose 2011, S. 15).  

 

Literatur

Benölken, Ralf (2016): Offene substanzielle Aufgaben. Ein möglicher Schlüssel auch und gerade für die Gestaltung inklusiven Mathematikunterrichts. In: Benölken, Ralf & Käpnick, Friedhelm (2016).  Individuelles Fördern im Kontext von Inklusion. Münster: WTM, S. 203-213.

Benölken, Ralf, Berlinger, Nina & Käpnick, Friedhelm (2016): Offene substanzielle Aufgaben und Aufgabenfelder. In: Käpnick, Friedhelm (Hrsg.): Verschieden verschiedene Kinder. Inklusives Fördern im Mathematikunterricht der Grundschule. Seelze: Klett-Kallmeyer, S. 157-172.

Benölken, Ralf; Berlinger, Nina & Veber, Marcel (2017): Das Projekt „Inklusiver Mathematikunterricht“ – konzeptuelle Ansätze für Unterricht und Lehrerbildung. MNU Journal. [Akzeptiert]

Häsel-Weide, Uta & Nührenbörger, Marcus (2015). Aufgabenformate für einen inklusiven Arithmetikunterricht. In: Peter-Koop, Andrea; Rottmann, Thomas & Lüken, Miriam M. (Hrsg.): Inklusiver Mathematikunterricht in der Grundschule. Offenburg: Mildenberger, S. 58-74.

Hirt, Ueli & Wälti, Beat (2008): Lernumgebungen für den Mathematikunterricht. Natürliche Differenzierung für Rechenschwache bis Hochbegabte. Velber: Kallmeyer.

Käpnick, Friedhelm (2014): Mathematiklernen in der Grundschule. Heidelberg: Springer-Spektrum.

Käpnick, Friedhelm (2016): Verschieden verschiedene Kinder. Inklusives Fördern im Mathematikunterricht der Grundschule. Seelze: Klett Kallmeyer.

Käpnick, Friedhelm & Fuchs, Mandy: Mathe für kleine Asse. Empfehlungen zur Förderung mathematisch interessierter und begabter Kinder im 3. und 4. Schuljahr (Band 2). Berlin: Cornelsen.

Krauthausen, Günter & Scherer, Petra (2007): Einführung in die Mathematikdidaktik (2. überarbeitete Aufl.). Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag.

Krauthausen, Günter & Scherer, Petra (2010): Umgang mit Heterogenität. Natürliche Differenzierung in der Grundschule. Handreichung des Programms SINUS an Grundschulen. Kiel: IPN.

Lütje-Klose, Birgit (2011): Müssen Lehrkräfte ihr didaktisches Handwerk verändern? Inklusive Didaktik als Herausforderung für den Unterricht. Lernende Schule, 14, S. 13–15.

Lütje-Klose, Birgit & Miller, Susanne (2015): Inklusiver Unterricht – Forschungsstand und Desiderata. In: Peter-Koop, Andrea; Rottmann, Thomas & Lüken, Miriam M. (Hrsg.): Inklusiver Mathematikunterricht in der Grundschule. Offenburg: Mildenberger, S. 10–32.

Peter-Koop, Andrea; Rottmann, Thorsten & Lüken, Miriam M. (Hrsg.) (2015): Inklusiver Mathematikunterricht in der Grundschule. Offenburg: Mildenberger.

Scherer, Petra (2008): Mathematiklernen in heterogenen Gruppen – Möglichkeiten einer natürlichen Differenzierung. In: Kiper, Hanna; Miller, Susanne; Palentien, Christian & Rohlfs, Carsten (Hrsg.): Lernarrangements für heterogene Gruppen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 199–214.

Trautmann, Matthias & Wischer, Beate (2011): Der Vielfalt mit Vielfalt begegnen. Praxis Schule 5-10, Nr. 1, S. 4-8.

Winter, Heinrich (1996): Mathematikunterricht und Allgemeinbildung. Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, 61, S. 37–46.

Wittmann, Erich Ch. (1996): Offener Mathematikunterricht in der Grundschule - vom FACH aus. Grundschulunterricht 43, S. 3-7.

 

Kontakt:

Nina Berlinger und Timo Dexel

April 2017

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Natuerliche-Differenzierung_Berlinger_Dexel.php