Christian Mürner

Menschenbilder

Grundlegende Ansichten, die Menschen von sich selbst und anderen Menschen formulieren, finden sich in Menschenbildern zusammengefasst. (vgl. Barsch/Hejl 2000) Leitmotive von Menschenbildern werden verdeutlicht und explizit als Verhaltensgebote gebraucht oder aber unausgesprochen und implizit eingesetzt. Dementsprechend lässt sich zunächst die direkte, figürliche Darstellung von der indirekten, symbolischen Vorstellung und Herangehensweise an Menschenbilder unterscheiden.

(1) „Kopffüßler“ gelten als die „Geburt des Menschenbildes“. (vgl. Kraft 1982) Mit Kopffüßlern sind meist runde rudimentäre Gestalten mit Gesichtern gemeint, an die sich unmittelbar Beine anfügen. Sie treten in der zeichnerischen Entwicklung aller Kinder auf, etwa mit vier Jahren. Die Darstellung von Kopffüßlern ist zudem zugleich ein historisches wie transkulturelles Phänomen. Sie verweist sowohl auf ursprüngliche Malereien, auf künstlerische Arbeiten von Menschen mit (geistiger oder psychischer) Behinderung wie auch auf ein Thema der modernen Kunst. Kopffüßler widerspiegeln das Minimum eines Menschenbildes in einfacher als auch einleuchtender Art und Weise. Kurz gesagt: Bilder „zeigen Körper, aber sie bedeuten Menschen“. (Belting 2001, 87)

(2) Bei den meisten Menschenbildern oder Weltanschauungen handelt es sich nicht allein um Ab- oder Ebenbilder, sondern um Vor- und Idealbilder (vgl. Diemer 1978, 231), um grundsätzliche Repräsentationen und Beschreibungen des Menschseins. Hans Jonas (1961/1987) spricht vom „Homo pictor“ im Kontext der Frage nach einem entscheidenden „Erkennungsmittel“ oder Merkmal für den Menschen im Unterschied zu den anderen Lebewesen. Im „Bildvermögen“ eignen sich Menschen die Welt durch Analogiebildung an. Die jeweils artikulierte Ähnlichkeit ist zwar unvollständig oder besser perspektivisch orientiert, begründet und ermöglicht aber eine stellvertretende, repräsentierende, schöpferische, freie Wahl. Jonas schreibt: „Ein Bild zu machen setzt die Fähigkeit voraus, etwas als Bild wahrzunehmen.“ (ebd., 34) Das gilt nach Jonas unabhängig von „spezieller Begabung, tatsächlicher Ausübung und Grad des erreichten Könnens“ als „Wesenaussage“. (ebd.) Diese basiert auf einem inklusiven Menschenbild, weil ihr ein kommunikativer, „gemeinsamer Besitz aller“ zugrunde liegt. (ebd., 39)

Bei Menschenbildern geht es im Allgemeinen um die Klärung der Frage: „Was ist der Mensch?“ Diese alte Frage wird im 21. Jahrhundert durch die Hirnforschung aktualisiert, die einen naturalistischen Wandel oder sogar ein „neues Menschenbild“ postuliert, hauptsächlich wegen der Ungewissheit des „freien Willens“. (vgl. Pauen 2007) Jedenfalls erscheinen Menschenbilder dynamisch, ihre Prioritäten ändern, ergänzen, verfeinern oder verschieben sich. Es ist von mannigfaltig charakterisierten, z.B. von christlichen, humanistischen oder instrumentellen Menschenbildern die Rede. Viele Menschenbilder haben eine Tendenz, sich auf einen durchschnittlichen, ausgeglichenen, „normalen Menschen“ zu berufen und dessen vermeintlichen Ansichten zu fixieren. Deshalb ergibt sich im Umgang mit Menschenbildern die Aufgabe, wie Michel Foucault (1975/2002, 1017f) bemerkt, die Kombinationen von Wahrnehmung, Wissen, Wahrheit und Macht zu analysieren. Also ist im symbolischen Zusammenhang eher der Frage nach dem Wie? als derjenigen nach dem Was? nachzugehen. Allerdings erhält der transdisziplinäre Ansatz der „Bildwende“ – des Iconic Turn oder Pictorial Turn – nicht nur im kulturwissenschaftlichen Bereich in Zukunft zunehmende Relevanz, sondern auch im Gebiet der medizinischen Bildgebungsverfahren oder bei der Interpretation der Bilder von Überwachungskameras. (vgl. Bachmann-Medick 2006, 329) In Bezug auf Behinderung gibt es kontinuierliche und diskontinuierliche Strategien des Umgangs, der Ausgrenzung und der Isolierung – bis hin zur Entmenschlichung – oder des Respekts und der Einbeziehung. Diese werden jeweils mit unterschiedlichen Menschenbildern legitimiert, beispielsweise durch „Sonderbehandlung“ oder eine spezifische Betreuungs- und Fördermöglichkeit oder durch die sozialpolitische und pädagogische Assistenz bei größtmöglicher Vielfalt und Variationsbreite. Ausdruck davon ist u.a. der Wechsel der Terminologie von „Behinderte“ zu „Menschen mit Behinderung“. Gegenüber der Substantivierung und damit der Reduzierung von Personen auf ihre Behinderung bestimmt „Menschen mit Behinderung“ die Attribuierung „behindert“ als eine Beifügung unter anderen möglichen, die eine besondere Bedeutung erhalten können. Aber auch der „Ehrentitel Mensch“ (Bodenheimer 1994, 38f.) ist zu reflektieren, das heißt den Standpunkt zu benennen, von dem aus man sich ein Bild vom Menschen macht. Die Frage nach dem Menschen, vor allem weil „man doch selber einer ist“, wie Hans Blumenberg notiert (2006, 503ff), provoziert das Problem, wer von welchem Standort aus eine für alle gedachte, akzeptable oder kompetente Definition und „Differenzbestimmung“ der Fähigkeiten und Eigenschaften festlegen könne. In diesem selbstkritischen wie fragilen Vorgehen hinsichtlich bestehender Menschenbilder äußert sich eine konstruktive Offenheit.

 

Literatur:

Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften.

Reinbek bei Hamburg 2006.

Barsch, Achim/Hejl, Peter M. (Hrsg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellungen

von der menschlichen Natur (1850-1914). Frankfurt am Main 2000.

Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001.

Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen. Frankfurt am Main 2006.

Bodenheimer, Aron Ronald: Plädoyer für die Unordnung. Bielefeld 1994.

Diemer, Alwin: Philosophische Anthropologie. Düsseldorf 1978.

Foucault, Michel: Dits et Ecrits. Schriften Bd. 2. Frankfurt am Main 2002.

Jonas, Hans: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen. Göttingen 1987.

Kraft, Hartmut: Die Kopffüßler. Sammlung Kraft. Stuttgart 1982.

Plauen, Michael: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes. München 2007.

 

Kontakt:

Dr. phil. Christian Mürner

C.Muerner@t-online.de

April 2009

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Menschenbilder_Muerner.php