Anke Langner

Lernen / Lernschwierigkeiten

Etymologisch ist das Wort "lernen" mit den Wörtern "lehren" und "Liste" verwandt und gehört zur Wortgruppe von "leisten", das ursprünglich "einer Spur nachgehen, nachspüren, schnüffeln" bedeutet.

Lernen hinterlässt Spuren im Gedächtnis und wie dieser komplexe Prozess funktionieren könnte, wird seit dem vergangenen Jahrhundert aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht. Allen Perspektiven zugrunde liegt die Annahme, dass es sich beim Lernen um einen aktiven Prozess handelt, bei dem eine Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Diese Auseinandersetzung, oder die Fähigkeit zu lernen, ist für den Menschen (wie auch für das Tier) eine Grundvoraussetzung, um sich an die Gegebenheiten des Lebens und der Umwelt anpassen zu können, darin sinnvoll zu agieren und sie gegebenenfalls im eigenen Interesse zu verändern.

Behaviorismus: Lernen wird als ein Prozess definiert, „der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrungen baut“ (Zimbardo 1995; 263). Das Lernen kann jedoch nicht direkt beobachtet werden, sondern lediglich aus dem beobachtbaren Verhalten erschlossen werden. Lernen ist auch nicht immer per se feststellbar, weil es sich zum Teil um eine latente Form des Lernens handeln kann. Nach dem Behaviorismus gilt etwas als gelernt, wenn die „Veränderung“ im Verhalten relativ stabil bleibt. Bedingt wird das Lernen zum einen durch bereits gesammelte Erfahrungen und durch die bislang erreichte Reife des Individuums –entsprechend einem Entwicklungsfahrplan, der aussagt, in welchem Lebensalter, welche Entwicklungsschritte vollzogen werden. Die Wurzeln dieser Aussagen des Behaviorismus liegen im Konditionierungskonzept von Pawlow.

Konstruktivismus: Die Überlegungen zum Lernen sind sehr stark durch die Aussagen der (radikalen) konstruktivistischen Erkenntnistheorie beeinflusst. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Verstehen und Lernen als konstruktive Operationen verstanden werden müssen. Dies impliziert, dass Lernen ein individuell-aktiver Konstruktionsprozess ist. Jeder Mensch konstruiert Wissen auf dem jeweils spezifisch vorhandenen individuellen Erfahrungswissen – seinen subjektiven Wissensbeständen. Objektive Wissensbestände gibt es nicht, da keine objektiv erfassbare Wirklichkeit besteht, die unabhängig vom wahrnehmenden Menschen geschaffen wird. Die Wirklichkeit wird immer erst durch den Menschen geschaffen (konstruiert) und existiert deshalb nur subjektiv in seinem Gehirn. Für das Lernen hat dies zur Konsequenz, dass es nur durch seinen Bezug auf bereits bestehendes Wissen funktioniert, welches wiederum erst durch individuell bedingte, eingesetzte Konstruktionsprozesse entsteht. Somit kann das Ergebnis von Lernprozessen nicht identisch sein und dies nicht zuletzt, weil die Konstruktionsprozesse durch soziale Kontexte und soziale Interaktionen beeinflusst werden. Das Aneignen von Wissen erfolgt nach dem Konstruktivismus nicht durch die Addition von Wissensinhalten, sondern durch eine Umstrukturierung von bereits vorhandenem Wissen.

Dem konstruktivistischen Prinzip der Selbstorganisation folgend, wird der Mensch als ein in sich geschlossenes System betrachtet, welches sich selbst organisiert und damit auch für sich die Welt  organisiert. Lernen bedeutet für den Menschen „Überleben als System“. Somit ist jeder Mensch für das eigene Lernen verantwortlich (vgl. von Glaserfeld).

Kognitionspsychologie: In der kognitiven Psychologie wird angenommen, dass menschliches Wissen organisiert gespeichert ist. Die Aneignung von Wissen erfolgt in altersgemäßen Stufen. Piaget unterschied vier grundlegende Stufen: die sensomotorische Stufe (Säuglingsalter); die Stufe des präoperationalen Denkens (2.-7. Lebensjahr); Stufe der konkreten Operationen (7.-11.Lebensjahr) sowie die vierte Stufe der formalen Operationen (ab dem 11. Lebensjahr). Jede Stufe ist durch spezifische kognitive Prozesse und angewendete Strategien charakterisiert. Zwei zentrale Prozesse bestimmen nach Piaget die Wissensaneignung. Zum einen ist dies die Assimilation. Hierbei werden die neuen Informationen so verändert, dass sie sich in bereits bestehende Schemata einfügen. Zum anderen ist es die Akkomodation. Hier werden die Schemata selbst verändert, um der Information angemessen zu sein bzw. um nicht in einen Widerspruch zu geraten. Piaget vertritt demnach die Idee, dass das Lernen vom Lernenden selbst ausgeführt werden muss. Lernen erfolgt im Sinne der Kognitionspsychologie über ein informationsverarbeitendes System, was den Menschen auszeichnet. So versucht er, das gesamte Wissen zu strukturieren, zu organisieren und zu speichern, sodass es jederzeit abgerufen werden kann. Gesteuert wird dieses System durch mentale Operationen (Prozesse und Strategien), die sich bei der Aneignung von neuem Wissen immer auf bereits vorhandenes Wissen und auf eingehende Stimuli beziehen (hierzu Piaget).

Neuropsychologie/ Neurobiologie: Im Kontext der Neurobiologie wird Lernen als Veränderungen im Nervensystem infolge von Lernprozessen verstanden. So wird von Lernen gesprochen, wenn es aufgrund von Erfahrungen zu dauerhaften Veränderungen im Nervensystem kommt. Das Gehirn verändert sich durch das Lernen oder vielmehr das Lernen bedingt eine lebenslange Hirnentwicklung – dies charakterisiert die Plastizität des Gehirns. Das Gehirn wird als Netzwerk aus Nervenzellen (Neuronen) angesehen. Lernprozesse bedeuten etwas zu vernetzen, zu verbinden, Neues in das bisherige Netzwerk einzubinden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Wissen nicht als etwas Ganzes abgelegt wird, sondern in unterschiedlichen Hirnregionen gespeichert wird. Neurobiologen räumen den Emotionen eine wichtige Bedeutung bei Lernprozessen ein. Wie wichtig und wie sie bei Lernprozessen beteiligt sind, ist noch nicht vollständig erforscht (vgl. Roth).

Kulturhistorische Schule: Lernen impliziert im Sinne der Kulturhistorischen Schule strukturelle Veränderungen im Gehirn, die durch den Aufbau von höheren psychischen Funktionen aus niederen psychischen Funktionen entstehen. Dieser Aufbau vollzieht sich aus dem Wechselspiel zwischen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache und Denken. Niedere psychische Funktion sind nach Vygotskij die unmittelbaren, angeborenen, natürlichen Verhaltensweisen, die durchaus bereits einem kulturellen Vermittlungsprozess unterliegen. Der Prozess des Aufbaus höherer psychischer Funktionen basiert auf dem Zeichen- und Werkzeuggebrauch des Menschen. Die Werkzeuge sind ein Instrument für den menschlichen Lernprozess und mit ihnen werden strukturelle und funktionale Einheiten im Gehirn geschaffen. Ein weiteres Charakteristikum des Lernprozesses im Sinne der kulturhistorischen Schule ist die Tätigkeit, sie vermittelt zwischen Subjekt und Objekt. Durch die Tätigkeit verändern sich die ursprünglichen Beziehungen bzw. die wechselseitigen Verbindungen zwischen den einzelnen psychischen Funktionen (interfunktional). Im Kontext von Lernen ermöglicht die Tätigkeit die Denktätigkeit, zugleich ist sie auch dessen Grundlage, denn die Tätigkeit löst zunächst eine Veränderung der äußeren Handlung aus.  In einem weiteren Schritt dient die Tätigkeit der Verkürzung der äußeren Handlung und in einem abschließenden Schritt wird die Handlung interiorisiert, das bedeutet, sie kann jetzt als Denkfunktion operieren. Bedeutsam für den Lernprozess sind Emotionen und Motivation als Träger der Tätigkeit (vgl. Wygotskij).

Verständnis Lernschwierigkeit

Das Verständnis von Lernschwierigkeiten wird durch die jeweils zugrunde gelegte Theorie von Lernen bedingt. Das Verständnis des Lernprozesses ist maßgebend für die Ursachenverortung der Lernschwierigkeit. Das Klassifikationsmodell der WHO, die ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten), definiert alle Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (u.a. Rechtschreib- und Rechenstörungen) als Lernschwierigkeiten. Lernschwierigkeiten werden oft von einer geistigen Behinderung abgegrenzt, wobei hier weder mit dem Kriterium der Dauerhaftigkeit noch dem der Umfänglichkeit gearbeitet werden kann. So wird zur Differenzierung der Intelligenzquotient hinzugezogen (IQ zwischen 89-70).

Ausgehend vom Verständnis des Lernprozesses gibt es innerhalb der Pädagogik unterschiedliche Erklärungsansätze für Lernschwierigkeiten, die einen Integrations- und Inklusionsprozess sehr stark beeinflussen.

Lernschwierigkeit als individueller Defekt (zum Teil neurophysiologische Perspektiven): Die Grundlage für die Betrachtung der Lernschwierigkeit als individueller Defekt ist ein medizinisch-pathologisches Modell der  Lernbeeinträchtigung. Die Ursachen der Lernschwierigkeiten werden im organisch-funktionellen  Bereich lokalisiert (z.B. genetische oder chromosomale Veränderungen, exogen-bedingte Störungen, Störungen im Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis). Der Nachweis von biologischen Schädigungen in Verbindung mit Lernschwierigkeiten war und ist nur bei einem geringen Teil der Kinder mit Lernschwierigkeiten möglich. Deshalb wurde dieses Modell um die Messung des Intelligenzquotienten erweitert. Die Feststellung der Intelligenz ist nach wie vor ein fester Bestandteil der pädagogischen Diagnostik, obwohl die Aussagekraft des Intelligenzquotienten infrage gestellt wird und wurde. Kritisch anzumerken ist, dass bspw. mit einem Intelligenztest nur ein Teil der Intelligenz gemessen werden kann und meist sind diese Tests nur verbal abstrakt. Darüber hinaus wird mit dieser Art der pädagogischen Diagnostik die Verknüpfung des Phänomens Intelligenz mit sozialen Lebenswelten und sozialen Entwicklungsbedingungen in hohem Maße vernachlässigt.

Lernschwierigkeiten als institutionelles Phänomen: In Folge der Industrialisierung erlangten Lernschwierigkeiten in der pädagogischen Praxis an Bedeutung. Sie führte zu einer starken Ausdifferenzierung von Arbeitsvorgängen und sie maß der Leistungsfähigkeit der ArbeiterInnen eine besondere Bedeutung zu. Daraus ergebend wurden und werden Menschen mit Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen durch eine eingeschränkte Produktivkraft charakterisiert. Auf dieses aufkommende wirtschaftliche „Symptom“ reagierte das Schulsystem mit der Einrichtung der ersten Hilfsschule 1881. Sie galt als Antwort auf die veränderten Anforderungen der Wirtschaft an ihre zukünftigen ArbeitnehmerInnen und auf das immer wiederkehrende Phänomen des pädagogischen Versagens. Bis heute gibt es Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“, denn der Sonderpädagogik ist es gelungen, einen verbindlichen Rahmen für ein Verständnis von besonderen Lernschwierigkeiten zu schaffen. Die Entstehungsgeschichte der ersten Hilfsschule verweist auf die Bedeutsamkeit von sozio-ökonomischen Faktoren bei der Konstruktion von Lernproblemen (vgl. Fend).

Lernschwierigkeiten als Phänomen der Benachteiligung (sozio-ökonomischen Faktoren): Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ zeichnen sich durch einen hohen Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund sowie durch eine Vielzahl von SchülerInnen aus Haushalten, die Hartz IV erhalten, aus. Bei MigrantInnenkindern besteht ein hohes Risiko für Sprachschwierigkeiten, da oftmals kein altersgemäßer und  angemessener Gebrauch der deutschen Sprache erfolgt. Die bestehende Diskrepanz zwischen Lernwelt und individueller Lebenswelt wie auch die häufig wirtschaftliche und politische Unsicherheit der Eltern führen eher zu Schwierigkeiten beim Lernen. Ähnlich verhält es sich bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Den Kindern fehlen in ihrer Entwicklung meist wichtige Impulse und Anreize, sodass z.B. ihre Sprachentwicklung häufig verzögert ist. Auf die erschwerte Lernausgangslage der SchülerInnen kann die Schule nicht angemessen reagieren, sodass sich Lerndifferenzen verfestigen und vergrößern. Vor allem kann eine nicht adäquate Förderung im Vor- und Grundschulbereich zur Verfestigung der Entwicklungsdifferenzen führen, die sich dann zu besonderen Lernschwierigkeiten entfalten.

Lernschwierigkeit aus systemisch-konstruktivistischer Sicht: Diese Perspektive stellt eine individumzentrierte diagnostische Orientierung der Pädagogik infrage. Objektive Diagnosen können die Komplexität von Systemen nicht abbilden. So bedarf es des aktiven Interaktionspartners auch in der Diagnostik. Lernschwierigkeiten werden mit diesem Ansatz als Ergebnis von Wechselwirkungen durch strukturelle Kopplungen in sozialen Kontexten verstanden. Daraus ergeben sich für das pädagogische Handeln drei Paradigmen: pädagogisches Beobachten muss hypothesengeleitet sein; es setzt an Stärken und Ressourcen an; Beobachtung und Förderung sind miteinander verknüpft (vgl. Wong).

Kulturhistorische Schule: Entwicklung und damit auch Lernen ist ein Prozess, der in erster Linie über soziale Beziehungen vermittelt wird. Demnach sind Lernschwierigkeiten in hohem Maße auf Probleme in Interaktionen und sozialen Entwicklungsprozessen zurückzuführen. Vygotskij beschreibt dies in seinem defektologischen Modell (Jahreszahl). Er unterscheidet zwischen dem primären, dem sekundären und dem tertiären Defekt. Der primäre Defekt beschreibt mögliche Einschränkungen aufgrund von biologischen Veränderungen. Bei einer Vielzahl von SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten bestehen aber keine Hinweise auf einen primären Defekt, obwohl es Lernschwierigkeiten gibt. Diese sind vielmehr durch den sekundären und tertiären Defekt infolge erschwerter Entwicklungs­möglichkeiten zu kennzeichnen. Der sekundäre Defekt beschreibt die vom Individuum zu leistende Kompensation der erfahrenen Erschwernisse in der Entwicklung (wie z.B. Benachteiligung, Armut der Eltern, schulische Benachteiligung, fehlende Entwicklungsanreize – Deprivation). Die tertiären Folgen drücken das teilweise Misslingen der zu leistenden Kompensationsanstrengungen aus (vgl. Jantzen).   

 

Integration/ Inklusion:

Im Sinne des Gedankens der Inklusion und Integration ist ein individuelles Zuschreibungsmodell von Lernschwierigkeiten nicht aufrecht zu erhalten. Die Perspektive der Kulturhistorischen Schule und auch die systemisch-konstruktive Sichtweise verweisen auf die Bedeutsamkeit von sozialen Faktoren und gesellschaftlich bestehende Zuschreibungsmechanismen bei der Entstehung des Phänomens „Lernschwierigkeit“. Durch Sensibilisierung für diese Konstruktionsprozesse durch Pädagogen und gesellschaftliches Umfeld also durch einen gesellschaftlich getragenen Integrationsgedanken kann das Konstrukt Lernschwierigkeit vermieden bzw. minimiert werden können.

Das Phänomen der Lernschwierigkeiten als Ergebnis von unterschiedlichsten Formen der Benachteiligung kann durch den inklusiven Gedanken vermieden werden. Dies impliziert, dass die Separierung von SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten in besondere Schulformen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ und „geistige Entwicklung“ in Frage zu stellen ist.

 

Literatur:

Fend, Helmut. (1980). Theorie der Schule München.

Glasersfeld, Ernst Von. (1996). Radikaler Konstruktivismus. Ideen. Ergebnisse. Probleme Frankfurt/M. .

Jantzen, Wolfgang. (1987). Allgemeine Behindertenpädagogik (Band I). Basel: Beltz.

Jantzen, Wolfgang. (1990). Allgemeine Behindertenpädagogik (Band II). Basel: Beltz.

Piaget, Jean. (1974). Theorien und Methoden der modernen Erziehung Frankfurt/M.: Fischer

Piaget, Jean. (2003). Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Weinheim/ Basel Beltz.

Roth, Gerhard. (1991). Neuronale Grundlagen des Lernens und des Gedächtnisses In: S. Schmidt (Hg.), Gedächtnis, Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.

Suhrweiser, H. (1993). Lernbehinderte Kinder und Jugendliche - Kennzeichnung der Population. In: G. Siepmann (Hg.), Lernbehinderung (S. 34-81). Berlin

Wong, Bernice (Hg.). (2008). Lernstörungen verstehen (3. Auflage). Berlin/ Heidelberg: Spektrum - Akademischer Verlag

Wygotski, Lew. (1975). Pädagogik der kindlichen Defektivität. Die Sonderschule, 20(2), 65-72.

Wygotski, Lew. (1987). Ausgewählte Schriften (Band II). Berlin: Volk und Wissen.

Zimbardo, Philip. (1995). Psychologie (6. neu bearbeitet und erweiterte Auflage). Berlin/ Heidelberg: Springer Verlag.

 

Kontakt:

Dr. Anke Langner

anke.langner@alumni.hu-berlin.de

Mai 2009

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Lernen_Langner.php