André Frank Zimpel

Kybernetik

Die Kybernetik ist ein Teilgebiet der Mathematik. Ihr Gegenstand sind rekursive Regelungsvorgänge in signalverarbeitenden Systemen. Sie ist die führende Wissenschaft vom Zusammenhang zwischen Signal und Bewegungssteuerung. Ihre zentralen Kategorien sind: „System“, „Information“ und „Steuerung“. Beispiele für Anwendungsgebiete sind: Technik, Ökonomie, Soziologie, Biologie, Medizin, Psychologie und Pädagogik.

Die Kybernetik ist in ihrem Wesen transdisziplinär. Das bedeutet: Sie überschreitet mühelos Disziplingrenzen und ermöglicht einen transparenten Theorie-Praxis-Dialog. Dies ist möglich, weil sie bewusst in operational geschlossenen und selbstbezüglichen mathematischen Funktionen oder Algorithmen von den konkreten materiellen und energetischen Ge-gebenheiten abstrahiert. Iterationen sind eine bevorzugte mathematische Darstellungsform. Sie ermöglichen die Berechnung von Stabilisierungsgraden und Optimierungsvorgängen offener Steuerungssysteme.

Die theoretische Kybernetik verallgemeinert Gesetzmäßigkeiten der Bewegungsprozesse abstrakter kybernetischer Systeme. Ihre Teildisziplinen sind Systemtheorie, Informationstheorie, Regelungstheorie, Optimierungstheorie, Automatentheorie, Spieltheorie und Algorithmentheorie.

Die angewandte Kybernetik widmet sich der Lösung konkreter Fragestellungen und Konfliktsituationen. Auch für die angewandte Kybernetik ist eine transdisziplinäre Modellbildung und Arbeitsweise charakteristisch. Alle künstlichen Rechenmaschinen, Regelungsautomaten und Formen der Nachrichtentechnik beruhen auf kybernetischen Modellen.

Eine besondere Eigenschaft der Kybernetik ist, dass sie mathematische Zugänge für die Modellierung sich entwickelnder Systeme (à Entwicklung) eröffnet. Damit ermöglicht sie ein vertieftes Verständnis für Systeme, die über die Fähigkeit zur Anpassung an sich veränderte Umweltbedingungen, die Fähigkeit zum Lernen und zur Weiterentwicklung besitzen.

Im Jahre 1948 erscheinen zwei Grundlagenwerke der Kybernetik: „Eine mathematische Theorie der Kommunikation“ von Shannon und „Kybernetik“ von Wiener. Letzteres trug den Untertitel „Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine“. Das erste Buch führte die Maßeinheit „bit“, eine Abkürzung für „binary digit“, als Maß für die Unsicherheit H einer Nachricht ein (Shannon & Weaver 1998, 50).

Das zweite Buch rückte die Untersuchung und Nutzung kreiskausaler Prozesse in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Der amerikanische Mathematiker Wiener (1894-1964) prägte den Begriff „Kybernetik“ für Regelsysteme, die sich selbst durch Rückkoppelungsschleifen steuern. Philosophisch beeinflussten ihn maßgeblich die Werke von Spinoza und Leibniz: „…Leibniz denkt ebenso dynamisch, wie Spinoza geometrisch denkt“ (Wiener 1968, 65).

Für Wiener war das 18. Jahrhundert das Zeitalter der Uhren und das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Dampfmaschinen. Im 20. Jahrhundert sah er das Zeitalter der Nachrichten- und Regelmaschinen. Seinen Begriff der Kybernetik führt er auf das englische Wort „governor“ (deutsch: Leiter/in, Chef/in) zurück. 1868 bezeichnete der Physiker James Clerk Maxwell Fliehkraftregler als „governors“. Das Wort „governor“ ist eine lateinische Verfälschung des griechischen Wortes „κυβερνητης“ (kybernetes) für Steuermann. Wiener sah in der Steuermaschine eines Schiffes das Urbild für Rückkoppelungsmechanismen. Das griechische Wort „κυβερνητικός“ (kybernetikos) bezeichnet die Kunst, ein Schiff zu steuern.

Wiener hoffte, dass die Kybernetik neben militärischer Nutzung auch neue Wege für die Steuerung von Prothesen für fehlende Gliedmaßen und Sinnesorgane aufzeigen wird. Diese Hoffnung hat sich fraglos erfüllt. So werden heute zum Beispiel in Deutschland jährlich hunderte sogenannter Hirnschrittmacher in die Basalganglien oder den Vagusnerv von Menschen, die unter Parkinson, schweren Depressionen, Epilepsie, Zwangsstörungen oder Kopfschmerzen leiden, eingepflanzt. Ein kleiner batteriegetriebener und chipgesteuerter Impulsgeber unter der Haut der Brustmuskulatur steuert Elektroden im Gehirn. Diese tiefe Hirnstimulation ermöglichte schon in einigen Fällen eine drastische Reduktion wirkungsloser Medikation.

Zehn interdisziplinäre Konferenzen, die sogenannten Macy-Konferenzen, trugen zwischen 1946 und 1953 zur internationalen Verbreitung der Kybernetik bei. Die 1930 in den USA gegründete Macy-Stiftung unterstützt hauptsächlich interdisziplinäre medizinische Forschungsprojekte.

Die zwölfjährige Tochter von Josiah Macy, Jr., Kate Macy, litt unter einer plötzlichen Lähmung ihrer Beine. Die erste Macy-Konferenz war deshalb eine Zusammenkunft von Neurologen und Muskelforschern, die gemeinsam darüber nachdachten, was die Erkrankung verursachen könnte. Experten aus anderen Wissenschaftsdisziplinen erweiterten das Diskussionsspektrum der Konferenzen. In der dritten Konferenz kamen sie auf die Lösung des Problems: Die Ursache war ein fehlender Botenstoff, den der Körper des Mädchens nicht produzierte. Dieser Botenstoff war notwendig, um elektrische Impulse von der Nervenzelle auf die Muskelfaser zu übertragen. Ein Medikament, das diesen Botenstoff ersetzte, reichte aus, damit Kate Macy das Laufen wieder erlernen konnte. Als ihr Vater starb, stiftete sie das Erbe zur Fortführung der Konferenzen (Foerster & Bröcker 2002, 165-166).

Foerster übernahm ab der sechsten Macy-Konferenz die Herausgabe der Tagungsbände. Auf seine Initiative erhielten die Konferenzen den Titel „Kybernetik“. Die mittlerweile legendären Macy-Konferenzen leiteten tatsächlich das Informationszeitalter ein. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass Computer heute in allen Lebensbereichen präsent sind. Damit bewirkten sie indirekt auch eine verbesserte Teilhabe von Menschen unter den Bedingungen verschiedenster Behinderungen an unserer Gesellschaft.

1961 stellte Wiener überraschende Überlegungen über lernende und sich selbst re-produzierende Maschinen an (Wiener 1968, 204). Daraus entwickelte er den Gedanken einer geschichtsabhängigen Programmierung zweiter Ordnung, die Onto- und Phylogenese ermöglicht (à Entwicklung).

Die Entwicklung lernender Maschinen leistet Grundlagenforschung für ein besseres Verständnis menschlichen Lernens. Der Kybernetiker und Pädagoge Frank stellt folgerichtig fest: „Man kann die Pädagogik geradezu als Teilgebiet der Kybernetik bezeichnen“ (Frank 1993, S. 7). Ein hervorragendes Beispiel für die Anwendung der Kybernetik auf ein behindertenpädagogisch relevantes Thema ist der schon klassische Text von Sievers (1982) mit dem Titel: „Frühkindlicher Autismus“. Er erklärt Besonderheiten der Verarbeitung von Information bei Autismus. Sievers gelingt es, mit wenigen Mitteln alle Kardinalsymptome von Autismus anhand eines mathematisch-kybernetischen Modells zu erklären. Für solche Modelle gilt: Eine Hypothese sollte mit möglichst wenig Voraussetzungen möglichst viele Tatsachen erklären. Wenn sich alle wesentlichen Symptome eines Syndroms aus einem einzigen kybernetischen Modell ableiten, kann dieses Modell sowohl häufige als auch Sonderfälle entschlüsseln.

Der Physiker Foerster (2003) widmete einen Artikel der Entwicklungstheorie Piagets. Sowohl Piaget als auch Foerster waren davon überzeugt, dass die Nutzung des Spezialwissens der Naturwissenschaften – allerdings ohne die Methode der Reduktion - zur Lösung der Probleme in den Geisteswissenschaften einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Auf Foerster geht auch der Begriff „Kybernetik zweiter Ordnung“ zurück. Sie fordert, den Beobachter eines Systems ebenso wie das System selbst zu beschrieben und zu erklären. Insofern widmet sie sich der Beobachtung der Beobachtung und ersetzt den Begriff einer objektiven Realität durch Eigenwerte kognitiver Systeme (Zimpel 2005).

Die Begriffe „Eigenwert“ und „Eigenfunktion“ gehen auf den Mathematiker Hilbert (1862-1943) zurück. Er hatte sie um die Jahrhundertwende eingeführt. Der Hilbert-Raum verallgemeinert den euklidischen Vektorraum, indem Vektoren durch Funktionen ersetzt werden. Operatoren im Hilbert-Raum besitzen im Allgemeinen „Eigenfunktionen“ und „Eigenwerte“. Foerster dehnte die Bedeutung des Begriffs „Eigenwert“ eines Operators auf zwei Bereiche aus:

1.) Fixpunkte von Iterationsgleichungen bezeichnet er auch als Eigenwerte, wie zum Beispiel die Eins als Eigenwert einer Folge von Quadratwurzeln. Als Eigenfunktion der Differentialrechnung bezeichnet er zum Beispiel die Exponentialfunktion (Potenzfunktion mit der Eulerschen Zahl e als Basis).

2.) Menschliches Eigenverhalten bildet ebenfalls Eigenwerte, wie zum Beispiel räumliche Vorstellungen von Objekten und ihrer Umgebung (Zimpel 2008, 117-123).

 

Literatur:

Foerster, H.v. & Bröcker, M. (2002): Teil der Welt. Fraktale einer Ethik. Heidelberg

Foerster, H.v. (2003): Objects: Tokens for (Eigen-)Behaviors. In: Foerster, H.v.: Understanding Understanding. Essays on Cybernetics and Cognition. New York, 261-271

Frank, H. (1993): Kybernetische Pädagogik. Berlin

Shannon, C. E. & Weaver, W. (1998): The Mathematical Theory of Communication. Urbana

Sievers, M. (1982): Frühkindlicher Autismus. Köln

Wiener, N. (1968): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek bei Hamburg

Zimpel, A.F. (2005): Recursion, Reiterations and Remarkableness: An Ontogenetic Approach to a Theory of the Observer. IN: The Scientific Work and Influence of Heinz von Foerster, editors: Alexander Riegler and Monika Bröcker. Volume 34 of the 2005 volume of Kybernetes, Nr. 3, 521 - 542.

Zimpel, A.F. (2008): Der zählende Mensch. Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben. Göttingen

 

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. habil. André Frank Zimpel

Andre.Zimpel@t-online.de

 

18. August 2009

 

Quellenverweis:  http://www.inklusion-lexikon.de/Kybernetik_Zimpel.php