Manfred Jödecke

Kulturhistorische Schule

Modern gesprochen: ein interdisziplinärer Arbeits- und Forschungszusammenhang, der von

Lew S. Vygotskij (1896- 1934) in den 20er Jahren in der sowjetischen Psychologie begründet wurde.

 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


                                    (Bildquelle: Vygodskaja, G.T., Lifanova, T.M.,  2000, S. 220)

                           Vygotskijs Schüler (erste Reihe von links nach rechts: A.R.Lurija, R.J.Levina, A.N.

                            Leont’ev, N.G. Morozova; dahinter von links nach rechts: L.I.Bozovic, D.B. El’konin,

                            L.S. Slavina und A.V. Zaporozec). Die Aufnahme entstand nach dem 2. Weltkrieg.

 

Die Grundlage für theoretische und praktische Suchbewegungen des Kollektivs um Vygotskij zum Erhalt des Bewusstseins als Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie bildete das lebendige dialektische Denken. Vygotskij als Methodologe entdeckte in der von Marx im "Kapital" praktizierten dialektischen Methode die Herangehensweise an die Untersuchung des Bewusstseins. Die Bedeutung (значение) als „Zelle“ des Bewusstseins erschien ihm als Einheit, als Ausgangsabstraktum von Verallgemeinerung (обобoщение) und gesellschaftlich- sprachlichem Umgang oder Verkehr (общение). In "Denken und Sprechen" legte er dar, wie sich die Bedeutungen in der menschlichen Ontogenese entwickeln und wie sie von außen nach innen aufgebaut werden können. Der Entwicklung der Bedeutungen versuchte er mit einer von N. Ach adaptierten, mit L.S. Sacharov weiterentwickelten Methode der „künstlichen Begriffsbildung“ (образование искусвенных понятий) unter experimentellen Bedingungen auf die Spur zu kommen. Kinder und Heranwachsende sollten geometrische Körper unterschiedlicher Form, Größe und Farbe zu Gruppen zusammenzufassen. Unter jedem Körper ist ein Kunstwort angebracht, dass eine Bedeutung verkörpert. Die Probanden stellen immer neue Hypothesen darüber auf, welche Merkmalskombination es wohl sein könnte, die in dem Kunstwort zum Ausdruck kommt. Einige Probanden sahen von den Bedeutungen ab und bildeten aus den geometrischen Körpern synkret- affektive Gruppen, schufen aus dem experimentellen Material kleine Kunstwerke. Andere fassten sie zu „Familienkomplexen“ zusammen, wobei die Merkmale bunt aneinander gereiht wurden. Wieder andere Pobanden erfassten spontan eine Merkmalskombination, ohne dass sie sich der im Kunstwort auskristallisierten Bedeutung wirklich bewusst waren. Ältere, formal logisch denkende Probanden bedienten sich der Kunstworte um Hypothesen über die Merkmalskombination zu entwickeln. Bald jedoch fanden Vygotskij und seine Mitarbeiter heraus, dass es Unterschiede in der natürlichen, spontan alltäglichen und der künstlichen Begriffsbildung geben musste. Die Übergänge von empirischer zu theoretischer Begriffsbildung und verallgemeinernder gedanklicher Aktion zu erforschen, machten spätere Forschungsgruppen um D. B. El’konin und W.W. Davydov zu ihrer Aufgabe.               

 

Anderen Wegen bei der Untersuchung der Aufbaugesetzmäßigkeiten des Bewusstseins gingen

P. Ja. Gal’perin und A.N. Leont’ev nach. Gemeinsam mit seinen  Mitarbeitern entwickelte P. Ja. Gal’perin die Konzeption der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen und Begriffe. In dieser Konzeption ging er, wie schon vor ihm Vygotkij, davon aus, dass geistige Handlungen und Begriffe in zweifacher Form vorliegen, einmal als zwischen den Akteuren gemeinsam geteilte (interpsychische) und zum anderen als nach innen hineingenommene oder verinnerlichte (intrapsychische). Die Konzeption der etappenweisen Ausbildung zeigte auf, wie äußere, kollektiv geteilte, entfaltete Handlungen mit materiellen Gegenständen über die Sprachvermittlung zu inneren, individualisiert gedanklichen und verkürzt- automatisierten Handlungen werden können. Mit ihrem entwicklungsorientierten Lese- Schreib- und Mathematikunterricht zeigt Christel Manske, wie jedes Kind mit seinen unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auf dem Weg des handelnden Lernens Entdeckungen machen kann.

 

A.N. Leont’jev hingegen interessierte sich für die Leidenschaftlichkeit (пристрастность) des Bewusstseins. Nicht das Wissen als solches war für Leont’ev von Interesse, sondern der „Bezug zum Wissen“, eben jener persönliche Sinn (личностный смысль), den gesellschaftliche Bedeutungen für konkrete Menschen annehmen können. Bewusstsein als Einheit von Sinn und Bedeutung wird im Leont’ev’schen Verständnis aus der (gesellschaftlich verfassten) Lebenstätigkeit heraus hervorgebracht. Die behavioristische Theorie der zwei Faktoren (Stimul- Reaktion) "dekonstruiert" er zu dem dreigliedrigen Schema von Subjekt- Tätigkeit- Objekt. In und mit der gegenständlich praktischen Tätigkeit vergegenständlicht das menschliche Subjekt seine ideellen Vorannahmen im Objekt; über die Tätigkeit eignet es sich die im historischen Prozess entstandenen gesellschaftlich- kulturellen "Wesenskräfte" an. Die Welt und seine psychische Widerspiegelung in Bewusstsein und Persönlichkeit sind dem Menschen nicht so sehr gegeben als vielmehr zur Entwicklung aufgegeben. Unschwer wird deutlich, dass mit der Tätigkeit als "erklärendem Prinzip" des Bewusstseins Leont’ev den historischen und dialektischen Materialismus der Feuerbachthesen und der insbesondere frühen Schriften  Marxens für die psychologisch- pädagogische Theorie und Praxis aufzuschließen vermochte. Es waren W. Jantzen und G. Feuser, die an den Stereotypien bildenden Tendenzen im Verhältnis von Sinn und Bedeutungen ansetzten und auf deren Grundlage das Allgemeine, "das Paradigmatische" der Behindertenpädagogik zu formulieren vermochten- das Verhältnis von Isolation und Dialog.

 

Die Zukunftsperspektive der kulturhistorischen Schule liegt weiter in dem, was schon Vygotskij die „Wissenschaft vom konkreten Menschen“ genannt hat. Menschen sollen auf den "Entwicklungspfaden ihrer individuellen Selbstorganisation" nicht so sehr typisiert, als vielmehr deren Lebens- und Entwicklungsprozesse „topologisiert“, d.h. aus deren Lebens- und Entwicklungsbedingungen rekonstruiert werden. In welche Richtung diese Rekonstruktion gehen müsste, hat u.a. A.R. Lurija in den romantischen Portraits "klinisch- neurologischer Fälle" aufgezeigt. In diesen Porträts werden bio- und beziehungsmedizinische (vgl. A. Zieger) Erkenntnisse zu einer Synthese gebracht, die den Portraitierten ihre Subjektivität belässt oder wieder zurückgibt, ganz im Sinne des "Nichts über uns ohne uns" der Behinderten als Experten in eigener Sache. Das Verstehen der sozialen Entwicklungssituation eines konkreten Menschen setzt beim mitfühlenden Erleben an, umgreift deren erklärende Außenperspektive und kommt im gemeinsamen solidarischen Handeln zu ihrem Ende.               

 

 

 

 

 

Literatur:

 

Jantzen, W., 1987, Allgemeine Behindertenpädagogik, Bd.1: Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen, Beltz, Weinheim und Basel        

W. Jantzen, W. Lanwer- Koppelin (Hrsg.), 1996, Diagnostik als Rehistorisierung. Methodologie und Praxis einer verstehenden Diagnostik am, Beispiel schwer behinderter Menschen, Edition Marhold, Berlin

Jödecke, M., 1986, Zur Entwicklung pädagogisch- psychologischer Grundlagen der Korrektiverziehung in der Defektologie der UdSSR- eine theoretische Analyse, Diss. Magdeburg.

Manske, Ch.,  2008, Jenseits von PISA. Lernen als Entdeckungsreise, Eigenverlag, Hamburg

Vygodskaja, G.T., Lifanova, T.M.,  2000, Lev Semjonovic Vygotskij. Leben- Tätigkeit- Persönlichkeit, Verlag Dr. Kovac

Выготский, Л.С. (Vygotkij, L.S.), 1982-84, собрание сочинений, т. 1- 6 (Gesammelte Werke, Bd. 1-6), педагогика, Moskau

 

Kontakt:

Prof. Dr. Manfred Jödecke

m.joedecke@hs-zigr.de

04.05.2009

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/KulturhistorischeSchule_Joedecke.php