Helmwart Hierdeis

Kultur

Der Begriff „Kultur“ bezieht sich auf das, was der Mensch denkend und handelnd an sich selbst, an seinen Lebensbedingungen und an seiner materiellen wie sozialen Umwelt bewirkt hat und ständig neu bewirkt. Im Gegensatz dazu wird „Natur“ verstanden als das nach immanenten (physikalischen und chemischen) Gesetzen Gewordene und immer neu Entstehende. Der Mensch ist, auf der Basis seiner genetischen Vorgaben und in Interaktion mit seiner Umwelt, Faktor und Produkt der Kultur (Kulturelle Evolution). Die Überlebensfähigkeit und die Identität einer Gesellschaft hängen davon ab, inwieweit es ihr gelingt, „objektive“ Kultur (z.B. Sprache, Symbole, religiöse, soziale und politische Ordnungsvorstellungen und -systeme, Wissenschaft, Kunst, Technik, Institutionen) durch Lern-, Erziehungs- und Bildungsprozesse in „subjektive“ Kultur zu verwandeln (Enkulturation). Daher legt die Gesellschaft großen Wert auf einen organisierten Kulturtransfer (Bildungsinstitutionen). Während bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auf der Grundlage von Vorstellungen, die im 18./19. Jahrhundert entwickelt worden sind (z.B. Herder, Fichte) Kultur als Sinnganzes verstanden wurde, dessen Entstehung und Erhaltung an eine bestimmtes Territorium, an eine gemeinsame Sprache oder Sprachgruppe und an eine gemeinsame Geschichte gebunden ist, hat sich unter dem Eindruck von Wanderungsbewegungen und Globalisierungsprozessen die Einsicht herausgebildet, dass alle Kulturen grundsätzlich Mischkulturen sind. Daher kann sich kulturelle Identität nicht auf eine einheitliche und unverwechselbare, „reine“ Kultur berufen. Kultur ist historisch wandelbar, ihre Grenzen sind nicht genau zu bestimmen, und ihre Elemente sind mehrdeutig. Nur wenn die Kultur in der Lage ist, Fremdes aufzunehmen und sich an Fremdes anzupassen und wenn Menschen lernen, mit kultureller Vielfalt und Mehrdeutigkeit umzugehen, kann sie ihre individuelle und gesellschaftliche Orientierungsfunktion erfüllen.

Für die Bildungsinstitutionen stellen sich in diesem Zusammenhang drei zentrale Aufgaben: 1. Sie haben dauernd über das Tradierenswerte und die Gewichtung von Kulturtransfer einerseits und der Vorbereitung auf künftige Lebenssituationen (Qualifikation) andererseits zu entscheiden. 2. Sie haben sich bei den Lernenden um ein zeitgemäßes Verhältnis zwischen kultureller Identität und kultureller Offenheit (Fremdheit als „Ressource“, Toleranz) zu bemühen. 3. Sie haben der nachwachsenden Generation stets aufs Neue dabei zu helfen, eine lebbare subjektive Kultur zu entwickeln, ohne dass der Anschluss an die objektive Kultur verloren geht.

 

Literatur:

Auernheimer, G. (1999): Notizen zum Kulturbegriff unter dem Aspekt interkultureller Bildung. In: Gemende, M./Schröers, W./Sting, S. (Hg.): Zwischen den Kulturen. Weinheim/München, 27ff.

Hepp, A./Löffelholz, M. (Hg.) (2002): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz.

Hierdeis, H. (2005): Fremdheit als Ressource. Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Kommunikation. Innsbruck.

Hierdeis, H. (2010): Kultur. In: Wiater, W. u.a. (Hg.): Pädagogische Leitbegriffe im deutsch-italienischen Vergleich. Hohengehren, 212f. (Der vorstehende Beitrag bildet eine modifizierte Fassung.)

Liedtke, M. (1991): Evolution und Erziehung. Ein Beitrag zur integrativen Anthropologie. 3. Aufl. Göttingen.

Nieke, W. (2000): Interkulturelle Erziehung und Bildung Wertorientierungen im Alltag. 2. Aufl. Opladen.

Rode, H./Bolsche, D./Rost, J. (Hg.) (2001): Kultur und Kommunikation. Opladen.

Wierlacher, A./Berger, A. (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar.

 

Kontakt:

Em. O.Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis

Helmwart.Hierdeis@web.de

 

Juni 2010

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Kultur_Hierdeis.php