Theo Hug

Konstruktivismus

Die Verwendungsweisen der Ausdrücke 'Konstruktivismus' und 'konstruktivistisch' sind in historischer und systematischer Hinsicht mehrdeutig. Konstruktivistische Ideen kommen schon in der indischen Philosophie vor, insofern in den Upanishaden (ca. 750-550 v. u. Z.) die Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Wahrnehmungen im Traum und solchen im Wachzustand problematisiert werden. Sie tauchen in der Mathematik der griechischen Antike, der Rhetorik bei Cicero (106 – 43 v. u. Z.), bei den Vorsokratikern und bei den antiken Skeptikern auf. In der griechischen Philosophie waren es vor allem Demokrit (460 – 371 v. u. Z.) und Sextus Empiricus (160 – 210 n. Chr.), die das Argument entfaltet haben, dass man im Prozess der Wahrnehmung nicht zugleich hinter die Wahrnehmung zurück kann, um so die Angemessenheit der Repräsentation der Wahrnehmung beurteilen oder wahre von falschen Erkenntnissen unterscheiden zu können.

Die Problematisierung von Ansprüchen der Wahrheit und des Zugangs zur Realität stellt einen thematischen Fokus dar, der in sehr unterschiedlicher Weise entfaltet wird. In der abendländischen Geschichte sind zahlreiche Konstruktivismus-Verständnisse entwickelt worden: In der Philosophie z. B. bei G.B. Vico, G. Berkeley, D. Hume, I. Kant, Ch.S. Peirce, H. Vaihinger, J. Dewey und H. Dingler, in der intuitionistischen Mathematik bei L. Brouwer und A. Heyting, in der Architektur, Bildhauerei und Malerei des russischen Konstruktivismus bei I. Leonidow, W. Tatlin und A. Rodtschenko, in der "Kulturhistorischen Schule" von L.S. Vygotskij, A.R. Lurija und A.N. Leontjew, in der Sozialtheorie von A. Schütz, T. Luckmann, P.L. Berger und P. Bourdieu, in der Psychologie von J. Piaget und P. Watzlawick, u. v. a. m.

Eine konzeptionelle, institutionelle oder personelle Geschlossenheit "des" Konstruktivismus ist dabei nicht auszumachen. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Diskursstränge ausmachen. Die verschiedenen Konstruktivismus-Varianten können als unterschiedliche Interpretationen der Beziehungen von Wissen und der Produktion von Wirklichkeit verstanden werden. Im Vordergrund steht die Gemachtheit der Tatsachen, des Wissensaufbaus, der Wirklichkeit, der Geschichte oder des gesellschaftlichen Seins. Der Fokus liegt damit auf Wie-Fragen und prozeduralen Perspektiven.

Das komplexe Feld konstruktivistischer Orientierungen lässt sich anhand dreier Charakteristika weiter eingrenzen: (1) Die intensive Befassung mit Fragen der Selbstreferenz und Selbstanwendung, (2) die Annahme der unhintergehbaren Perspektivität jeglicher Wissensproduktion, und (3) der Verzicht von Aussagen über die "Wirklichkeit an sich".

Die einzelnen Positionen sind tendenziell jeweils stärker auf erkenntniskritische, wissenschaftstheoretische, methodologische, forschungsmethodische, interdisziplinäre, gegenstandstheoretische oder themenbezogene Fragestellungen und Gesichtspunkte ausgerichtet. Entsprechend stehen jeweils andere Grundannahmen, diskursive Verortungen und metatheoretische Anbindungen im Vordergrund. So können u. a. radikal konstruktivistische und kybernetische, kognitionswissenschaftliche und neurobiologische, systemtheoretische, sozio-kulturalistische, (sozial-)psychologische und psychotherapeutische, (wissens-)soziologische und philosophische Konstruktivismus-Varianten unterschieden werden. Als wichtige Schlüsselbegriffe der Begründungsdiskussion lassen sich Autopoiese, Beobachtungsperspektive, Differenz, Emergenz, Koevolution, Koontogenese, System und Viabilität ("Gangbarkeit") nennen. Das zentrale Konzept der Viabilität (vgl. Glasersfeld 1997, S. 50) stellt dabei zugleich eine Antwort auf die Wahrheitsproblematik dar.

 

Literatur (Auswahl):

Fischer, Hans Rudi (Hrsg.) (1998): Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Heidelberg: Carl Auer Systeme.

Foerster, Heinz von et al. (2010): Einführung in den Konstruktivismus. 12. Auflage, München [u. a.]: Piper (Erstauflage 1985).

Glasersfeld, Ernst von (1997): Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg: Carl Auer Systeme.

Moser, Sibylle (Hrsg.) (2004): Konstruktivistisch Forschen. Methodologie, Methoden, Beispiele. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Pörksen, Bernhard (Hrsg.) (2011): Schlüsselwerke des Konstruktivismus: Mit einem Nachwort von Humberto Maturana. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Reich, Kersten (2001): Konstruktivistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften. In: Hug, Theo (Hrsg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Band 4, Baltmannsweiler: Schneider–Verlag Hohengehren, S. 356-376.

 

Online-Zeitschriften (Auswahl):

http://www.constructivistfoundations.info/
Constructivist Foundations. An interdisciplinary journal

http://sites.google.com/site/constructingworlds/journal
Constructivism in the Human Sciences

http://www.imprint.co.uk/C&HK/cyber.htm
Cybernetics and Human Knowing – A Journal of Second Order Cybernetics, Autopoiesis & Cyber-Semiotics

 

Webquellen (Auswahl):

http://www.univie.ac.at/constructivism/
Internet – und Diskussionsforum zum Radikalen Konstruktivismus

http://boag-online.de/index2.html
BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung

http://webapp.uibk.ac.at/radkon/
ABC des Radikalen Konstruktivismus

http://www.vonglasersfeld.com/
Ursprüngliche Homepage von Ernst von Glasersfeld (1917-2010)

http://methodenpool.uni-koeln.de/
Unterrichtsmethoden im konstruktiven und systemischen Methodenpool von Kersten Reich

 

 

 

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. Theo Hug

theo.hug@uibk.ac.at

23.12.2010

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Konstruktivismus_Hug.php