Koma/Wachkoma

Im phänomenologischen Verständnis der Beziehungsmedizin sind Koma und Wachkoma zwei extreme menschenmögliche Seinsweisen (Dörner 1994), die durch das naturwissenschaftlich-defektmedizinische Merkmal der schweren Bewusstseinsstörung verbunden sind. Häufigste Ursachen sind Schädel-Hirntrauma oder hypoxischer Hirnschaden. Beide stellen extreme Lebensbedingungen dar, gehen im Verlauf auseinander hervor und sind mit einer eingeschränkten Prognose assoziiert (Zieger 2016).

 

Koma (griech.: κμα, „tiefer Schlaf“) als schwerste Form einer quantitativen Bewußtseinsstörung mit Lebensbedrohung ist durch Unerweckbarkeit auf starke äußere Schmerzreize, geschlossenen Augen und Beatmungspflicht gekennzeichnet. Schweregrad, Tiefe und Rückbildung (Remission) werden anhand äußerer körperlicher Reaktionen auf Reizangebote nach klinischen Kriterien bestimmt (Glasgow Coma Scale, Koma-Remissions-Skala). Der Komabegriff wurde erst im 20. Jahrhundert, ausgehend von einem qualitativ veränderten individuellen Lebensphänomen, auf ein allgemeines, rein quantitativ-verobjektiviertes pathologisches Hirnfunktionssyndrom reduziert. Mit der tiefsten Komastufe als zentrales Symptom kennzeichnet das Hirntodsyndrom die Unumkehrbarkeit des Sterbeprozesses.

Wachkoma (franz.: Coma vigile, engl.: vegetative state, defektmedizinisch: apallisches Syndrom, lat.: a-apllisch, ohne Hirnmantel, ohne Großhirnrindenfunktion) entsteht etwa drei Wochen aus tiefen Komazustand, kann dauerhaft anhalten oder mehr oder weniger sich vollständig erholen. Die prinzipielle Rückbildung wurde erstmals 1967 vom Wiener Neurologen Franz Gerstenbrand beschrieben. Im Vollbild bestehen Spontanatmung und Augenöffnen, während Fixieren, Blickfolgen, emotionale Reizantworten und Kontaktaufnahme (Gewahrsein der Umgebung und seiner selbst) fehlen. Wissenschaftlich wird der Begriff Syndrom der reaktionslosen Wachheit  (unresponsive wakefulness syndrome) bevorzugt.

Neue messtechnische Forschung hat in 50 Prozent der Fälle emotionale Ansprechbarkeit (vertraute Stimmen, Gesichter, Musik; Schmerzschreie anderer: soziales Gehirn!) und in 10 Prozent kortikale Aktivierbarkeit (mentales Vorstellen, Unterscheidung sinnvoller/sinnloser Sätze) aufgezeigt (Zieger 2016).

Behandlungsansätze zielen auf frühe Reagibilität unter basaler, propriozeptiver und multimodaler sensorischer Stimulation und Kontaktaufnahme im körpernahen Dialogaufbau, den Aufbau von Ja/Nein-Codes sowie die frühe Vertikalisierung und Frühmobilisation und die Vermeidung schwerwiegender Komplikationen (Steinbach/Donis 2011). Intensive, interdisziplinäre, alltagsstrukturierte und teilhabeorientierte Frührehabilitation, Nachsorge und Langzeitversorgung unter Einbeziehung von Angehörigen ermöglichen in 20-30 Prozent auch noch nach Jahren eine Rückkehr des Bewusstseins. Komplikationen wie Lungen- und Nierenbeckeninfekt oder Sepsis, zu denen Immobilität mit Fehlstellungen der Gelenke und Lagerungsschäden mit Wundgeschwüren beitragen, erhöhen die Sterblichkeit (Zieger 2016).

Offene Forschungsfragen sind, ob die messtechnisch ermittelte innere Reagibilität der äußerlich zu beobachtenden emotionalen Körpersemantik (Mimik, Körpertonus, Blick- und Kopfzuwendungsverhalten) vorausgeht und die Remission in einen minimalbewussten Zustand (minimally conscious state) früher anzuzeigen vermag als die Verhaltensbeobachtung. Ebenso besteht Forschungsbedarf bei palliativen Versorgung und den damit verbundenen ethischen Fragen des Lebenswillens, der Autonomie (rational, unwillkürlich), des Lebensschutzes, des Verzichts auf Weiterbehandlung und der Bedeutung für andere zu haben (als Würde der Gesunden) (Zieger 2014). Das Leben und Leiden im Wachkoma als interdisziplinäre Herausforderung stellt die immer wiederkehrende Frage, inwieweit man die Betroffenen nicht einfach liegen lässt, therapieresistent verwahrt oder sie für rehabilitationsunfähig erklärt. Die Klärung der damit aufgeworfenen Fragen nach dem Sinn der Seinsweise von Menschen im Wachkoma als Grund anthropologischer Ethik, nach dem vorausverfügten Behandlungsabbruch durch Nahrungsentzug und nach den neoliberalen ökonomischen Lösungsangeboten der Effizienzsteigerung, Priorisierung und Rationierung bedürfen eines breiten gesellschaftlichen Diskurses.

 

Literatur:

Dörner, Klaus (1994): Bewußtlos sein? In: Bienstein, Christel/Fröhlich/Andreas (Hrsg.) Bewußtlos. Eine Herausforderung für Ärzte, Pflegende und Therapeuten. Düsseldorf, 10-15.

Gestenbrand, Franz (1967): Das traumatische apallische Syndrom. Wien.

Steinbach, Anita/Donis, Johann (2011): Langzeitbetreuung Wachkoma. Eine Herausforderung für Betreuende und Angehörige. Wien, New York.

Zieger, Andreas (2014): Palliative Care bei Menschen im Wachkoma. In: Kränzle, Susanne/ Schmid, Ulrike/Seeger, Christa (Hrsg.): Palliative Care (Kapitel 18). Heidelberg, 369-378.

Zieger, Andreas (2016). Medizinische Grundlagen. In: Nydahl, Peter (Hrsg.): Wachkoma. Betreuung, Pflege und Förderung eines Menschen im Wachkoma.. München (4. Aufl., i. Vorb.).

 

Andreas Zieger