Ursula Böing & Andreas Köpfer                                  

Inklusive Schulbegleitforschung in der LehrerInnenbildung

1. Einführung

Schulbegleitforschung stellt einen Forschungsansatz dar, der Schul- und Unterrichtsprozesse zum Forschungsgegenstand macht und daraus innovative Ansätze für die Unterrichts- und Schulentwicklung generiert. Das zentrale Element der Schulbegleitforschung besteht in einer engen Kooperation der Universität als Institution der LehrerInnenbildung mit Schulen aus der Region, von der die Schulen wie auch die Universität respektive die Studierenden gleichermaßen profitieren (vgl. Fiegert & Wischer 2010, 11). Akteure der Schulbegleitforschung sind Lehrpersonen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende, die gemeinsam und im Team spezifische Fragestellungen des Schulalltags untersuchen. Die Untersuchungen beziehen sich damit unmittelbar auf schulische Praxisprobleme und sind prozessorientiert auf eine Entwicklung der Schul- und Unterrichtsqualität gerichtet. Die Erkenntnisabsicht zielt einerseits auf lokale Erkenntnisse der beteiligten Lehrpersonen und der Schule im Sinne einer Organisationsentwicklung oder einer Erweiterung der Handlungskompetenz. Andererseits weist sie über den lokalen Kontext hinaus und ermöglicht generelle Einsichten in Probleme und Wirkungsmechanismen im Kontext der verschiedenen pädagogischen und didaktischen Felder (vgl. Hollenbach et al. 2009, 8).

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland zu einem „inclusive education system at all levels“ verpflichtet (UN 2006, Article 24). Dieser rechtlichen Vorgabe ist auf Ebene der Schul- und Unterrichtsentwicklung Sorge zu tragen und die Frage nach adäquaten pädagogisch-didaktischen Konzeptionen ist aufgeworfen (vgl. Korff & Scheidt 2011, 91). Mit Blick auf diesen strukturellen wie inhaltlich-konzeptionellen Transformationsprozess kann Schulbegleitforschung wertvolle Erkenntnisse zu spezifischen Fragestellungen und besonderen Problemlagen inklusiver Schulentwicklung generieren.

Innerhalb der LehrerInnenbildung unterstützt Schulbegleitforschung phasenübergreifend die Professionalisierung von Lehrpersonen. Professionalisierung wird handlungstheoretisch als ein unabgeschlossener berufsbiografischer Prozess betrachtet; pädagogisches Handeln wird in seinem Strukturkern als ungewisses Handeln definiert. Für (zukünftige) Lehrpersonen ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer berufsbegleitenden forschenden Grundhaltung und einer Reflexion des pädagogischen Handelns (vgl. Böing 2009). Diese Prozesse werden durch inklusive Schulbegleitforschung unterstützt. Studierende verschiedener Lehrämter erhalten die Möglichkeit Wissen über Inklusion zu erwerben, ein vertieftes Verständnis für schulische Inklusionsprozesse zu entwickeln und einen Berufshabitus als forschende Lehrperson auszubilden. Berufstätige Lehrpersonen haben die Chance schulische und unterrichtliche Prozesse zu erforschen, eine reflexive Distanz gegenüber alltäglichen Handlungen auszubilden und Prozesse inklusiver Schulentwicklung mitzugestalten.

Gemeinsam ist allen Schulbegleitforschungsprozessen:

·         der Einbezug des Expertenwissens von Lehrerinnen und Lehrern,

·         die schrittweise Erkenntnisproduktion in einer Spirale von Aktion und Reflexion,

·         eine methodisch kontrollierte Datenerhebung und -auswertung und

·         die Arbeit in professionellen Teams.

(vgl. Meyer & Fichten 2010, 2)

 

2. Konzeption inklusiver Schulbegleitforschung

2.1 Methoden

Theorie-Praxis-Bezug

Inklusive Schulbegleitforschung ermöglicht Studierenden eine Verzahnung von Theorie und Praxis. Die Beziehung zwischen theoretischem Wissen und praktischem Können lässt sich unter Beachtung verschiedener professionstheoretischer Positionen als ein Differenzverhältnis beschreiben (vgl. Koch-Priewe 2004; Helsper 2011; Neuweg 2011). Die Vorstellung einer simplen Anwendung oder eines Transfers von theoretischem Wissen auf die praktische Handlungssituation hat sich als zu trivial erwiesen. Inzwischen gilt als belegt, dass Reflexion das entscheidende Bindeglied zwischen Theorie und Praxis darstellt. Unter Beachtung dieser Erkenntnisse beschränkt sich die Verzahnung von Theorie und Praxis im Kontext von Schulbegleitforschung nicht auf die Anwendung oder Einübung didaktischer oder pädagogischer Wissenselemente. Im Fokus steht vielmehr die Reflexion von Schul- und Unterrichtsprozessen im Kontext der Forschungsfrage. Fragen der schulischen oder unterrichtlichen Praxis sind anhand wissenschaftlicher Modelle und Theorien zu reflektieren und zu bearbeiten.

 

Forschendes Lernen

Das Forschende Lernen ist ein zentrales Element inklusiver Schulbegleitforschung. Im aktuellen Lehrerausbildungsgesetz in NRW (LABG, vgl. MSW 2009) wird das „Forschende Lernen“ als wichtiger Bestandteil der Lehrerausbildung benannt. Es soll zukünftige Lehrpersonen befähigen, „ihr Theoriewissen für die Analyse und Gestaltung des Berufsfeldes nutzbar zu machen und auf diese Weise ihre Lehrtätigkeit nicht wissenschaftsfern, sondern in einer forschenden Grundhaltung auszuüben“ (vgl. Wissenschaftsrat 2001, 41). Insofern greift die Methode des Forschenden Lernens die Differenz von Theorie und Praxis auf und begegnet dem strukturellen Merkmal pädagogischer Ungewissheit mit einer forschenden, reflexiven Grundhaltung. Forschendes Lernen als professioneller Habitus zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer ermöglicht, implizites Handlungs- und Erfahrungswissen einer Reflexion zugänglich zu machen, „blinde Flecken“ des eigenen Systems aufzudecken und Schul- bzw. Unterrichtsprozesse auf einer Metaebene in den Blick zu nehmen.

 

2.2 Verankerung von Inhalten inklusiver Bildung und Erziehung

Damit durch inklusive Schulbegleitforschung Erkenntnisgewinn gesichert ist, werden neben der reflexiven Grundhaltung der Forschenden und der Kooperation mit dem Forschungsfeld theoretische Bezüge benötigt. Theoretisches Basiswissen zu inklusiver Bildung und Erziehung bietet die Grundfläche, um Forschungsanliegen zu initiieren. Im daran anschließenden Forschungsprozess sind vertiefte theoretische Bezüge unabdingbar, die im Sinne wissenschaftstheoretischer Reflexionsflächen eine Einordnung der Ergebnisse in den Fachdiskurs um inklusive Bildung und Erziehung ermöglichen. Die theoretische Perspektive wird den Forschenden nicht aufoktroyiert, sondern entwickelt sich auf induktive Weise in Bezug auf das individuelle Forschungsanliegen. Nicht das theoretische Bezugsmodell, sondern das Reale bildet somit den Ausgangspunkt der Betrachtung, an welchem daraufhin mittels theoretischer Werkzeuge nach Möglichkeiten der Erklärung gesucht wird (vgl. Ziemen 2004, 256, in: Münch 2010, 2 f.).

Als fruchtbare wissenschaftstheoretische Reflexionsflächen haben sich im Fachdiskurs um inklusive Bildung und Erziehung unter anderem folgende Bezugsmodelle erwiesen (vgl. Köpfer 2011, 141 ff.):

·         Die psychologisch fundierten Vorarbeiten der Kulturhistorischen Schule

·         Denkfiguren aus der Sozialtheorie Pierre Bourdieus (u. a. Habitus- und Kapitaltheorie)

·         Wolfgang Klafkis bildungstheoretische Positionen im Rahmen seiner kritisch-konstruktiven Didaktik

·         Die entwicklungslogische Didaktik von Georg Feuser als umfassendes didaktisches Modell für eine Allgemeine (Integrative) Pädagogik

·         Erving Goffmans Kommunikations- und Interaktionstheorien für öffentliche Räume

·         Grundannahmen des Konstruktivismus und dessen Implikationen für pädagogische Prozesse

·         Allgemeine wissenschaftliche Studien im Kontext von Integration und Inklusion im nationalen sowie internationalen Raum

 

2.3 Inter- und intrainstitutionelle Zusammenarbeit

Schulbegleitforschung realisiert sich durch eine inter- und intrainstitutionelle Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen. Sie zielt auf die Öffnung der Universität und die interinstitutionelle Zusammenarbeit mit den Schulen in der Region, um Studierenden ein Lernen im Praxisfeld zu ermöglichen und Erkenntnisse über aktuelle Fragestellungen der Schulen zu erhalten. Damit einhergehend ist konzeptionell eine Pluralität der Lernräume vorgesehen, sodass sich Lernen für Lehrpersonen und Studierende in gleichberechtigten und handlungsentlastenden Settings realisieren kann.

Darüber hinaus ermöglicht Schulbegleitforschung die Kooperation der verschiedenen Bereiche der LehrerInnenbildung auf universitärer Ebene. Die exemplarische Bearbeitung einer Forschungsfrage bildet die Komplexität der Schul- und Unterrichtswirklichkeit ab und integriert bildungswissenschaftliche, fachwissenschaftliche, fachdidaktische und sonderpädagogische Fragestellungen. Für eine inklusive LehrerInnenbildung erscheint es notwendig, die strukturelle Trennung dieser Bereiche zu überwinden, Kooperationen aufzubauen und die spezifischen Kompetenzen und das Wissen aller Bereiche der LehrerInnenbildung zusammenzuführen.

Insofern kann eine Verzahnung dieser Bereiche durch Projekte inklusiver Schulbegleitforschung einen qualitativen Beitrag zu einer inklusiven LehrerInnenbildung leisten.

 

3. Perspektiven

Inklusive Schulbegleitforschung stellt einen Möglichkeitsraum dar, um die Bedürfnisse und Fragestellungen des Praxisfelds Schule und die Herausbildung von inhaltlichem und methodischem Handlungswissen bei Studierenden mittels Forschendem Lernen zu verbinden. Naheliegende – wenn auch nicht ausschließliche – Anwendungsfelder im Rahmen der LehrerInnenbildung bieten dabei die konzeptionell verankerten Praxisphasen. Mit dem Ausbau universitärer Praxisphasen wird derzeit den Forderungen nach einer engeren Verzahnung von Theorie und Praxis innerhalb der LehrerInnenbildung Rechnung getragen (vgl. Amrhein 2011). Inklusive Schulbegleitforschung setzt an dieser Schnittstelle an, definiert jedoch die Schulen nicht als passive Rezipienten, sondern als aktiv Beteiligte und gleichwertige Akteure im Forschungsprozess.

Gleichzeitig hält inklusive Schulbegleitforschung zentrale Anregungspunkte zur Weiterentwicklung der LehrerInnenbildung im Zuge inklusiver Bildung und Erziehung bereit. Sie regt kooperative, interdisziplinäre und intrainstitutionelle Prozesse innerhalb der Universität an, durch die die Komplexität des Praxisfelds Schule bereits in der LehrerInnenbildung abgebildet werden kann. Sie impliziert somit eine mehrperspektivische Sicht auf schulische Fragestellungen, die eine Zusammenführung bildungswissenschaftlicher, sonderpädagogischer und fachdidaktischer Perspektiven erforderlich macht (vgl. Abb. 1).


Abb 1.


Inklusive Schulbegleitforschung intendiert ein reziprokes Verständnis von Theorie und Praxis, in dem Lernräume geöffnet und mehrperspektivische Reflexionsprozesse angestoßen werden. LehrerInnenbildung bleibt damit nicht auf die Phase der Ausbildung reduziert. Inklusive Schulbegleitforschung ermöglicht berufsbiografische und berufsbegleitende Bildungsprozesse.

 

Literatur:

Amrhein, B. (2011): Inklusive LehrerInnenbildung – Chancen universitärer Praxisphasen nutzen. In: Zeitschrift für Inklusion-Online, H. 3, online verfügbar unter http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/viewArticle/123/121. Entnahme: 21.11.2012

Böing, U. (2009): Professionelles Handeln von Lehrpersonen im Unterricht mit Schülern und Schülerinnen mit schwerer Behinderung: die „Forschungswerkstatt“ als Instrument der Lehrerbildung in arbeitsplatzbezogenen Reflexionsprozessen. In: http://kups.ub.uni-koeln.de/3098/. Entnahme: 20.11.2012.

Fiegert, M.; Wischer, B. (2010) (Hrsg.): Studien zum gemeinsamen Lernen. Erste Ergebnisse aus der Forschungswerkstatt. (Beiträge aus der Osnabrücker Forschungswerkstatt Schulentwicklung, Band 1). Osnabrück

Helsper, W. (2011): Lehrerprofessionalität – der strukturtheoretische Professionsansatz zum Lehrberuf. In: Terhart, E.; Bennewitz, H.; Rothland, M. (Hrsg): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster. 149 – 170.

Hollenbach, N.; Tillmann, K. (2009) (Hrsg.): Die Schule forschend verändern. Bad Heilbrunn.

Köpfer, A. (2011): Theorie-Praxis-Seminar „Inklusive Schulentwicklung in Köln“ der Universität zu Köln – Perspektiven für die LehrerInnenbildung. In: Ziemen, K., Langner, A., Köpfer, A. & Erbring, S. (Hrsg.): Inklusion – Herausforderungen, Chancen und Perspektiven. Hamburg: Kovac Verlag, S. 139-150.

Koch-Priewe, B.; Kolbe, F.-U. & Wildt, J. (2004) (Hrsg.): Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung. Bad Heilbrunn.

Korff, N. & Scheidt, K. (2011): Inklusive (Fach-)Didaktik und LehrerInnenexpertise: Ergebnisse zweier Pilotstudien. In: Flieger, P. & Schönwiese, V. (Hrsg.): Menschenrechte. Integration. Inklusion. Aktuelle Perspektiven aus der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 91-97.

Meyer, H.; Fichten , W. (2010): Gemeinsam forschen lernen. Handout zum Eröffnungsvortrag der XV. Fachtagung des Nordverbunds Schulbegleitforschung. Hamburg, 16. September 2010 In: http://www.nordverbund-schulbegleitforschung.de/allg_material/Meyer%20-%20Gemeinsam%20forschen%20lernen.pdf. Entnahme: 20.11.2012

MSW NRW (2009): Gesetz über die Ausbildung für Lehrämter an öffentlichen Schulen (Lehrerausbildungsgesetz – LABG) vom 12. Mai 2009. In: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Schulrecht/Lehrerausbildung/LABG__Fassung_12_05_2009.pdf. Entnahme: 11.11.2012

Münch, J. (2010): „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar“ (Paul Klee, 1920). Intentionen, Konzeption und Perspektiven des Vertiefungsmoduls 'Heterogenität und Inklusion' im sonderpädagogischen Lehramtsstudium - Ein universitäres Theorie-Praxis-Seminar in Zusammenarbeit mit integrativen_Schulen in Köln unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunkts_geistige Entwicklung (2006-2010). Online verfügbar unter http://www.hf.uni-koeln.de/data/gbd/File/Muench/muench_sichtbare.pdf. Entnahme: 21.11.2012

Neuweg, H. (2011): Das Wissen der Wissensvermittler. In: Terhart, E.; Bennewitz, H.; Rothland, M. (Hrsg): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster. 451 – 477.

UN – United Nations (2006): UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities. Online verfügbar unter http://www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml. Entnahme: 21.11.2012

Wissenschaftsrat (2001): Empfehlungen zur künftigen Struktur der Lehrerbildung (Drs. 5065-01), http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/5065-01.pdf, Entnahme: 11.11.2012

 

Kontakt:

Dr. Ursula Böing (ursula.boeing@uni-koeln.de)

Andreas Köpfer (andreas.koepfer@uni-koeln.de)

 

November 2012

 

Quellenverweis:

http://www.inklusion-lexikon.de/InklusiveSchulbegleitforschung_BoeingKoepfer.php