Manfred Jödecke

Hermeneutik

 

„Die Möglichkeit, dass der Andere Recht hat, ist die Seele der Hermeneutik.“      (Gadamer nach einem Gespräch mit Derrida, zitiert nach Grondin 2012, 173)

 

1. Hermeneutik aus sich selbst heraus

Mit der These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ (Marx 1978, 535) gelingt Marx eine viel zitierte Aussage zur Hermeneutik im Gewande der Feuerbachschen „Anschaulichkeit“, der er einen „praktisch gegenständlichen“, die Welt nach wissenschaftlichen Maßstäben erklärenden und verändernden Materialismus gegenüber stellt. Und tatsächlich: „Interpretation“, „Auslegung“, „Deuten“, „Verstehen“ sind Vokabeln, die im Zusammenhang mit Hermeneutik immer wieder genannt werden (vgl. Duden 2012). Und wenn man Nietzsche folgen wollte, so gäbe es keine Tatsachen oder Wahrheit, sondern bloß Interpretationen (vgl. Grondin 2009, 8).

So relativiert könnte leicht der Eindruck entstehen, die Hermeneutik sei die gemeinsame, mehr noch, die beliebig verwendbare Sprache unserer Zeit. Dabei hat sie doch offensichtlich mehr sein wollen, nämlich eine „Wahrheitslehre im Interpretationsbereich“ (Grondin 2009, 8), die im Unterschied zur zugespitzten Formulierung bei Marx nicht nur das gegenständlich praktischen Handeln reflexiv vorbereiten, sondern auch Selbstreflexion inspirieren will.  Folgt man der Selbstauslegung der „Wahrheitslehre im Interpretationsbereich“, so stellt sich heraus, dass Hermeneutik Geschichte (und Zukunft) hat, ohne auf ein Telos hin ausgerichtet zu sein. Sie kommt nämlich in Heideggers oder Gadamers Schriften und Reden nicht zu ihrem Ende, obwohl sie mit diesen ihren einstweiligen universell-philosophischen Höhepunkt erreicht. Im klassischen Sinne bezeichnete Hermeneutik zunächst die Kunst, Texte richtig zu deuten. Zu diesen zählten neben philologischen und rechtswissenschaftlichen vor allem sakrale Schriften, wie die Bibel (vgl. Grondin 2012, 33 f.; Drewermann 1992). Die Textauslegung orientierte sich dabei an den Regeln der Rhetorik. Während die klassische Hermeneutik eher eine Hilfsfunktion ausübte, geriet sie in der Romantik in den Rang einer universellen Verstehenslehre. Die Kunst der Auslegung, die zum Verstehen führen sollte, wurde abgelöst durch eine Kunstlehre, die das Verstehen selbst zum Gegenstand hatte (vgl. Grondin, 2009, 20). Reden und Texte sollten durch den Interpretierenden ebenso gut, wenn nicht besser verstanden werden als die vom Urheber verfassten. Der ganze „innere Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers“ sollte vom „Aufkeimen der Entscheidung“ an auf das Vollkommenste nachgebildet werden (vgl. Grondin 2009, 22). Das Schicksal eines Satzes sollte über dessen Kontext, das Einzelwerk, das Gesamtwerk und die Biografie des Verfassers bis in die Geschichte der Epoche, ja die „Universalgeschichte“ hinein verfolgt und verstanden werden (vgl. Grondin 2009, 24). Mit Dilthey wurde die methodische und methodologische Bedeutung der Hermeneutik weiter ausgebaut (vgl. Kunzmann et al. 2005, 181). In der von Dilthey formulierten „geisteswissenschaftlichen Grundlegung“ gesprochen, befasst sich Hermeneutik mit dem Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen. In seiner „Kritik der historischen Vernunft“ arbeitete Dilthey heraus, dass die Grundlage geisteswissenschaftlichen Forschens die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Erzeugnisse sein müsse. Die Geisteswissenschaften unterscheiden sich nach dieser Auffassung von den Naturwissenschaften, insofern sie sich auf eine Wirklichkeit beziehen, die vom Menschen selbst hervorgebracht ist, d.h. hier befasse sich der Geist mit den Schöpfungen des Geistes selbst. Daher sei das Erkenntnisverfahren von den Naturwissenschaften verschieden: „Natur erklären wir, den Geist verstehen wir“. Es ist daher wohl kein Zufall, wenn Dilthey der Psychologie unter den Geisteswissenschaften einen hohen Stellenwert einräumt, schließlich befasse sich diese mit dem „Leben“ und „Seelenleben“, d.h. Realitäten "...hinter welche nicht zurückgegangen werden kann". Wie gesagt, das hermeneutische Verfahren, mit dem der Mensch Gegenstand der Geisteswissenschaften wird, setzt sich aus dem Dreischritt Erleben-Ausdruck-Verstehen zusammen. Mit dem Erleben bezeichnet Dilthey „…strukturelle Einheiten, aus denen sich das Seelenleben aufbaut. In ihnen ist der innere Zusammenhang des Bewusstseins mit seinen Inhalten gegenwärtig.“ (Dilthey, zit. nach Kunzmann et al. 2005, 181). Über den Ausdruck finde das Erleben seinen Niederschlag in äußeren Formen (z.B. Gesten, Sprache, Kunst etc.). Alle diese Äußerungsformen seien somit „Objektivationen des Seelenlebens.“ Das Verstehen setzt am „Begreifen eines inneren aufgrund seines äußeren Niederschlags“ an. Das „Verstehen der Objektivationen fremden Seelenlebens“ hingegen sei ein Nacherleben aufgrund der „Erfahrung des eigenen Seelenlebens“. Dabei komme der „Selbstbesinnung“ eine entscheidende Funktion zu. Mit Heidegger erhielt die Hermeneutik eine tiefer gehende existenzielle Wende, die sie aus den Fängen der (den Naturwissenschaften nachempfundenen) Methode befreite. Wie Heidegger schrieb, komme der Hermeneutik die Aufgabe zu, „…das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter, diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen“ (Heidegger, zit. nach Grondin 2009, 33). Mit anderen Worten: Der Wahrheitscharakter des hermeneutischen Verstehens hängt maßgeblich davon ab, inwieweit letzteres auf die Endlichkeit des Daseins Bezug nimmt und von dieser Erkenntnis „erschüttert“ wird (vgl. dazu auch Yalom 2010). Zur Heigger’schen  Wende der Hermeneutik gehört auch, dass er den dem Verstehen inhärenten Zirkel (vgl. Doxiadis et al. 2010, S. 163f.) bewusst machte. Der Interpretierende und das Verstehen kommen ohne Vorannahmen, Vorgriffe, eine „Vorstruktur“, ja Vorurteile nicht aus. Gadamer führte diesen Gedanken in Aufhebung der geisteswissenschaftlichen Engführung Diltheys weiter, indem er darauf verwies, dass die Akzeptanz  von  Vorwegnahmen nicht so sehr ein (subjektivierendes) Verstehenshindernis bilde als vielmehr die Grundlage des „Verstehensgeschehens“ selbst (vgl. Gadamer 2011). Verstehen schließe immer ein Sich-Verstehen mit ein (vgl. Grondin 2009, 52). Das Sich-Verstehen habe dabei eine ganz eigene Geschichte, die eine ihrer kräftigsten Wurzeln im humanistischen Wissen um Bildung und Erziehung (vgl. etwa Montaigne 2005) habe, aber auch in der tiefenpsychologische Exegese (vgl. Drewermann 1992) und Ideologiekritik (vgl. Habermas 1988). Genau an dieser Stelle setzt die Bedeutung der Hermeneutik für inklusives Denken und Handeln an.   

 

2. Hermeneutik in ihrer inklusiven Bedeutung

Auch herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen in konkreten sozialen Entwicklungssituationen können als „objektivierter“, sinnhafter Ausdruck des Erlebens der jeweils Beteiligten interpretiert werden (vgl. Jödecke 2012a; Störmer 2013). Ob dieser Ausdruck mehr oder weniger bewusst erfolgt, ist für das Verstehen zunächst von nachrangiger Bedeutung (vgl. Ondracek et al. 2006). Um das hermeneutische Nachvollziehen einer Verhaltensäußerung auf der Grundlage der Erfahrungen des eigenen Seelenlebens „aus sich selbst heraus“ optimieren und die (professionelle) „Selbstbesinnung“ zumindest ein Stück weit von subjektiver Willkür befreien zu können, bedarf es der Aufrichtung von so etwas, wie einer erklärenden Distanz im Verstehensprozess selbst. Erklärende Begriffe oder Kategorien können dazu beitragen, die „rationale Flanke“ des Verstehens zu stärken. Die „Kulturhistorische Schule und Theorie“, grundgelegt in den Schriften Wygotskis, Leontjews, Lurias, Galperin und Elkonins u. a. stellt Begriffe zur reflexiven Durchdringung von Verstehensprozessen in kohärenter Weise zu Verfügung, denn das kategoriale Netz dieser Theorie wurde in Forschungsprozessen vieler Anwendungsfelder gesellschaftlicher Praxis (Kunst, Literatur, Linguistik, Forensik, Pädagogik, Pathopsychologie, Psychotherapie, Rehabilitation…) geknüpft. So orientiert lassen sich verhaltenshermeneutische Herangehensweisen auf den ganzen Lebenszyklus hin anwenden (vgl. Jödecke 2007). Im inklusiven Sinne bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch Objektivationen von „Innenperspektiven“ von Krankheit und Behinderung, die immer auch Ausdruck der Bemühungen Betroffener um die Bewältigung (Coping), die Wiederherstellung und Sicherung des innerpsychischen  Zusammenhangs (Salutgenese) sowie die Selbstermächtigung (Empowerment) in gesellschaftlichen Kontexten sind (vgl. Jödecke 2012b, 247 f.). Gerade dabei zeigt sich überdeutlich, dass Persönlichkeit als ein "lebendiges System gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen den Verhaltensweisen" (Seve 1972, 194f.) verstanden werden sollte. Biologische Schädigungen (impairments), Krankheiten und Verlusterfahrungen werden zu Problemen nämlich erst im Prozess ihrer sozialen Realisation und zwar als mögliche Ausgangsbedingungen gesellschaftlicher Ausschlussprozesse. Diesen Ausschlussprozessen kann und muss auf  hermeneutisch-handlungsorientierte Weise so entgegengewirkt werden, dass ein Zusammenleben ohne Ausschluss immer wieder möglich wird.

 

Literatur:

Doxiadis, Apostolos & Papadimitriou, H. (2010): Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit. Zürich: Atrium.

Drewermann, Eugen (1992) Tiefenpsychologie und Exegese. Band 2: Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis. Olten und Freiburg i.B:  Walter Verlag.

Duden, Deutsches Universalwörterbuch (2012):  Version Kindle E- Book.

Gadamer, Hans Georg (2011): Sprache und Verstehen. In: Gesammelte Vorträge. Produktionen des Südwestrundfunks. Quartino GmbH München (MP3-CD).

Grondin, Jean (2009):  Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.

Grondin, Jean (2012): Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Jödecke, Manfred (2007): „Der Mensch muss werden können, was er seinem Wesen nach ist…““- Reflexionen zum psychischen Gestaltwandel am Beispiel des Jugendalters. In:

Behindertenpädagogik, Heft  3/4,  S. 343- 373.

Jödecke, Manfred (2012a): Verstehen- erklären- (sich) verändern- Schritte zu einer kulturhistorisch orientierten Verhaltenshermeneutik. Arbeitsgruppenbeitrag zu den 6. Görlitz Heilpädagogischen Tagen/ Fachtagung: Begriffe. Praxen. Perspektiven- kulturhistorische Ideen für inklusives Handeln.

Jödecke, Manfred (2012b): Expert/innen in eigener Sache als Katalysator „inklusiver Studien“- ein Erfahrungsbericht. In: Simone Seitz, Nina- Kathrin Finnern, Natascha Korff, Katja Scheidt (Hrsg.): Inklusiv gleich gerecht?. Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 247- 251. 

Kunzmann, Peter, Burkhard, Franz- Peter, Wiedmann, Franz (2005): Dtv- Atlas Philosophie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Ondracek, Petr, Hornakova, Marta, Klenovsky, Libor (2006): Verhalten und Handeln. In: Wolf Bloemers & Fritz- Helmut Wisch (Hrsg.): Eurpoean Inclusion Studies (Band 8). Berlin: Frank& Timme.

Seve, Lucien (1972): Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin (DDR): Dietz Verlag  

Störmer, Norbert (2013): Du störst! Herausfordernde Verhaltensweisen und ihre Interpretation als „Verhaltensstörung“. Berlin: Frank& Timme. 

Wygotski, L.S. (1975): Zur Psychologie und Pädagogik kindlicher Defektivität. In: Die Sonderschule, Heft 2. Berlin (DDR): Volk und Wissen, S. 65-72. 

Yalom, Irvin D. (2010): Existenzielle Psychotherapie. Bergisch Gladbach: EHP Verlag.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Manfred Jödecke

Hochschule Zittau/Görlitz

m.joedecke@hs-zigr.de

Juni 2013

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Hermeneutik_Joedecke.pdf