Michael Schwager

Gemeinsames Unterrichten

Gemeinsames Unterrichten als spezifische Form der Kooperation

Das gemeinsame Unterrichten einer Lerngruppe durch mehrere PädagogInnen (in manchen Zusammenhängen auch als ´Zwei-PädagogInnen-System´, als ´kooperatives Unterrichten´, als ´Team-Teaching´ oder als ´Doppelbesetzung´ bezeichnet) ist seit den Anfängen des Gemeinsamen Unterrichts von SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf eine der weitgehend unstrittigen Bedingungen für den Unterricht von Lerngruppen, die sich durch große Heterogenität auszeichnen. Da die Literatur zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum überschaubar ist, ist es derzeit nicht recht absehbar, ob die mit dem gemeinsamen Unterrichten verbundenen Fragestellungen im Rahmen einer Orientierung an den Ansprüchen einer inklusiven Schule schlicht übernommen werden, oder ob sie sich durch die Veränderung des Bezugsrahmens verändern. Bildungspolitisch ist dabei insbesondere umstritten, ob das gemeinsame Unterrichten grundsätzlich von zwei Lehrkräften oder von einer Lehrkraft und einer anderweitig qualifizierten pädagogischen Fachkraft praktiziert werden soll, ob die beiden Lehrkräfte unterschiedliche Lehrämter  – ein Lehramt der allgemeinbildenden Schule und ein Förderschullehramt – repräsentieren sollen und welche Anteile des Unterrichts von mehreren Pädagog/innen abgedeckt werden müssen, um ein Mindestmaß an pädagogischer Qualität zu gewährleisten. Vereinzelt werden noch weitere Fragen wie zum Beispiel diejenige nach einer notwendigen fachrichtungsspezifischen Qualifikation der Förderschullehrkraft bei einer Beteiligung z.B. von SchülerInnen mit Sinnesbehinderungen diskutiert. All diese Fragen sind sowohl regional in den Bundesländern zum Teil aber auch auf kommunaler Ebene und in Bezug auf verschiedene Schulformen höchst unterschiedlich geregelt und sie werden von den verschiedenen Interessensgruppen sehr unterschiedlich diskutiert, so dass sich allgemeine Aussagen nur schwer treffen lassen.

Bei einer Annäherung an das gemeinsame Unterrichten über eine Abgrenzung zu den vielfach synonym verwendeten Konzepten des Team-Teachings und der Doppelbesetzung lässt sich das gemeinsame Unterrichten zunächst von dem engeren Verständnis des Team-Teachings dadurch unterscheiden, dass es primär nicht curricular oder methodisch z.B. durch die angestrebte Vielfalt von Annäherungen an den Unterrichtsgegenstand, sondern durch eine spezifische Eigenschaft der Lerngruppe begründet wird. Die Heterogenität der Schülerschaft in dieser Lerngruppe überfordert nach einer verbreiteten Auffassung die Fähigkeiten und die Möglichkeiten nur einer Lehrkraft und sie erfordert zwei Lehrkräfte, um allen SchülerInnen gerecht werden zu können (z.B.: Wocken 1988a, 222; Schöler 1997, 16). Das gemeinsame Unterrichten begründet sich also aus der Heterogenität der Lerngruppe. Andererseits muss in Bezug auf das Konzept der Doppelbesetzung zunächst festgestellt werden, dass im alltäglichen Sprachgebrauch insbesondere an den Schulen die Rede von der Doppelbesetzung in aller Regel synonym zur Rede vom Gemeinsamen Unterrichten verwendet wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die der zweiten Lehrkraft zugewiesenen Aufgaben in jedem Falle nicht als eine Assistenz der Fachlehrkraft verstanden werden können. Es stellt auch eine Verkürzung dar, die zweite Lehrkraft auf die Zuständigkeit für das Wohl einzelner SchülerInnen zu reduzieren. Fragen der Kooperation der Lehrkräfte nehmen hingegen in den entsprechenden Darstellungen einen breiten Raum ein. Das Gemeinsame Unterrichten beruht auf einer Kooperation der Lehrkräfte, und die Rede von der Doppelbesetzung kann irreführend sein (vgl. dazu: Schwager 2011a, bes. 92ff.). Das gemeinsame Unterrichten ist eine durch die spezifische Situation der Heterogenität der Lerngruppe begründete Form der Kooperation von Lehrkräften im Unterricht.

Merkmale des gemeinsamen Unterrichtens

Die für das gemeinsame Handeln notwendige Kooperation selbst hat verschiedene Aspekte. Dies sind zunächst diejenigen Faktoren, die die Beziehungen der Lehrkräfte untereinander beeinflussen und die eine Kooperation fördern, erschweren oder sogar verunmöglichen können. Gemeint sind damit innerpsychische Bedingungen oder auch Sympathien bzw. Antipathien (dazu vor allem: Kreie 2009). Dies können aber auch unterschiedlich bedingte qualitativ verschiedene Stufen der Kooperation (dazu: Lütje-Klose & Willenberg 1999, bes. 11 ff.; ähnlich: Lütje-Klose 2011) und nicht zuletzt berufsständische Eigenarten sein(dazu: Wocken 1988b, 197 f; Werning, Urban & Sassenhausen 2001, 183 ff.), aufgrund derer die Kooperation im Unterrichten gefördert oder auch behindert wird. Das gemeinsame Unterrichten lässt sich aber auch pragmatisch als eine Form gemeinsamen Handelns analysieren. Diese eher auf die Akte des gemeinsamen Unterrichtens orientierte Herangehensweise findet sich vorzugsweise in der vielfältigen amerikanischen Literatur zum Thema. So verweist Murawski (2009, 23) auf die konstitutiven Merkmale des gemeinsamen Unterrichtens, wenn sie das Co-Teaching dadurch definiert „when two or more educators co-plan, co-instruct, and co-assess a group of students with diverse needs in the same general education classroom“. Wesentlich ist also die gemeinsame Verantwortung der beteiligten Lehrkräfte für die Planung, die Durchführung und die Bewertung des Unterrichts. Unabdingbar ist weiterhin die Anerkennung der Heterogenität der Lerngruppe als Voraussetzung dieser Form des Unterrichtens und von zentraler Bedeutung ist der grundsätzlich gemeinsame Klassenraum. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lässt sich von einem gemeinsamen Unterrichten sprechen. Umgekehrt lässt sich kaum noch von einem gemeinsamen Unterrichten sprechen, wenn die Lehrkräfte ihre Verantwortung beispielsweise nur für Teile der Lerngruppe (z.B. die SchülerInnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf) sehen, wenn der Unterricht auf eine Nivellierung der Heterogenität ausgerichtet ist oder wenn die Lerngruppe dauerhaft geteilt und in verschiedenen Räumen unterrichtet wird.

Die gemeinsame Planung, Durchführung und Bewertung bedeutet nun nicht, dass die Lehrkräfte jederzeit das Gleiche tun, indem sie beispielsweise beide vor der Klasse stehen und erklären. Ein solches Verständnis Gemeinsamen Unterrichtens widerspricht nicht zuletzt der Forderung nach Anerkennung von Heterogenität, da diese Anerkennung auch mit einer Individualisierung des Unterrichts einhergeht. Es ist also durchaus möglich und im Sinne der Definition Murawskis, dass die eine Lehrkraft beispielsweise das Unterrichtsgespräch führt, während die andere Lehrkraft einzelnen SchülerInnen oder einer Teilgruppe hilft oder wenn sie den Unterricht oder SchülerInnen beobachtet, pflegerische Tätigkeiten ausführt oder auch darauf wartet, in der folgenden Phase der Bearbeitung individualisierter Aufgabenstellungen einzelne SchülerInnen zu unterstützen (vgl. dazu unter Berufung auf Friend und Cook (2009): Willmann 2009, 350 f.; ähnlich Lütje-Klose & Willenberg 1999, 15 ff.). Es ist ebenfalls möglicherweise geboten und sinnvoll, dass die Lehrkräfte für einzelne Unterrichtsphasen oder –reihen die Rollen tauschen oder dass beispielsweise die Förderschullehrkraft mit einer Gruppe besonders leistungsstarker SchülerInnen den Raum verlässt um in der Schulbibliothek individuelle Aufgabenstellungen zu bearbeiten. Durch die Einbeziehung mehrerer Lehrkräfte können verschiedene Teilaufgaben eines gemeinsamen Unterrichtsthemas auf unterschiedlichen Niveaustufen und in unterschiedlichen Sozialformen bearbeitet werden, um auf diese Weise individuelle und sonderpädagogische Förderung mit dem alltäglichen Fachunterricht zu verbinden. Das zentrale Kriterium für ein gelingendes gemeinsames Unterrichten liegt in der Antwort auf die Frage, ob die verschiedenen Tätigkeiten der Lehrkräfte und die durch sie initiierten Maßnahmen durch die Gemeinsamkeit des Unterrichts für alle SchülerInnen in einem Klassenraum gerechtfertigt werden können und ob sie diese Gemeinsamkeit stärken (dazu: Schwager 2011b). Um dies zu erreichen, müssen sich die Lehrkräfte wie auch immer absprechen und sie müssen grundsätzlich gleichberechtigt kooperieren. So verstanden lässt das gemeinsame Unterrichten außerordentlich vielfältig Realisationen zu und der Versuch einer Formulierung eines Kanons von Regeln oder von Verhaltensweisen dürfte dieser Vielfalt kaum gerecht werden können.

Zielsetzungen des Gemeinsamen Unterrichtens

Diese Vielfalt charakterisiert auch die mit dem gemeinsamen Unterrichten verbundenen Zielsetzungen. So wird zwar immer wieder betont, dass das gemeinsame Unterrichten dazu dient, der Heterogenität der Klassen gerecht zu werden und dass mit ihm auf individuelle und sonderpädagogische Förderbedürfnisse angemessen eingegangen werden soll. Nichtsdestoweniger bleibt zu fragen, warum diese Ziele ausgerechnet durch das gemeinsame Unterrichten und nicht beispielsweise durch eine deutliche Verkleinerung der Lerngruppe erreicht werden soll. Einerseits ist dies eine Frage an die empirische Unterrichtsforschung, die entsprechend geklärt werden muss. Andererseits verweist sie aber auch auf ein weiteres Merkmal des gemeinsamen Unterrichtens, welches in den entsprechenden Diskussionen eher untergründig eine Rolle spielt. Es geht im gemeinsamen Unterrichten nämlich ähnlich wie beim Team-Teaching auch um Unterrichtsentwicklung. Es geht also auch darum, im Unterrichten einen Unterricht erst noch zu entwickeln, der Lerngruppen mit einer starken Heterogenität angemessen ist und der die verschiedenen Aspekte des Förderns und Forderns angemessen einbezieht. Diese Unterrichtsentwicklung kann im Sinne der von Lütje-Klose dargestellten  Stufenfolge von Formen der Kooperation erfolgen, aufgrund derer die Qualität von Unterricht in Relation zur Qualität der Kooperation steht. Sie kann aber auch in dem im gemeinsamen Unterrichten stattfindenden Kompetenztransfer der beteiligten Lehrkräfte insbesondere der Lehrkräfte mit unterschiedlichen Lehrämtern liegen. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass durch den Gemeinsamen Unterricht und auch durch das gemeinsame Unterrichten das professionelle Selbstverständnis der Lehrkräfte in Frage gestellt und durch ein verändertes Selbstverständnis ersetzt werden muss (siehe z.B. Wocken 1988b, 2011; Hinz 2009). Bei genauerer Betrachtung gilt dies allerdings nicht nur für das sich stark ändernde Berufsbild und das Selbstverständnis der Förderschullehrkräfte, sondern für alle beteiligten Lehrkräfte. So ist es bei einer Orientierung an den Ansprüchen der inklusiven Schule erforderlich, andersartige z.B.  sonderpädagogische, aber auch fachliche Inhalte und Methoden einzubeziehen. Zugleich ändert sich aber auch die Sicht auf das Tun der Lehrkräfte, indem dieses weniger als isoliert agierend, denn vielmehr als vielfältig kooperierend verstanden werden muss. Nicht zuletzt bezieht sich dieser Kompetenztransfer auf die Änderung des Verständnisses von Individualisierung und Klassenunterricht. Während sich Unterricht für Sonderschullehrkräfte häufig immer noch in eine Reihe von individualisierenden Maßnahmen auflöst und es ihnen schwerfällt, Unterricht auch als Unterricht mit und für eine Lerngruppe zu verstehen und durchzuführen, ist es Lehrkräften der Allgemeinen Schule häufig immer noch so, dass sie die Bedeutung individualisierender Maßnahmen unterschätzen und diese dem Unterricht nachordnen (dazu: Murawski 2009, 40ff.). Ein Kompetenztransfer insbesondere zwischen den verschiedenen Lehrämtern kann aber auch in Hinsicht auf die Vermittlung fachlicher Kompetenzen sinnvoll und notwendig sein. Eine Veränderung des Unterrichts in Hinsicht auf eine Orientierung an Ansprüchen der Inklusion geht auch mit einer Veränderung des Verhältnisses von Fachansprüchen einerseits und der Notwendigkeit des Aufbaus stabiler und dauerhafter SchülerInnen-Lehrer/innenbeziehungen einher, welches eine Beschränkung der eigenen Unterrichtstätigkeit auf einmal studierte Fächer als anachronistisch erscheinen lässt.

Neben dem professionellen Selbstverständnis der verschiedenen Lehrämter, neben den geforderten und erforderlichen methodischen und fachlichen Kompetenzen ändert sich mit der Orientierung an Inklusion also auch der Stellenwert des für viele Schulen insbesondere im Sekundarbereich charakteristischen Fachlehrer/innenprinzips. Der Kompetenztransfer im alltäglichen gemeinsamen Unterrichten bietet dabei die Möglichkeit einer praxisorientierten und praxisbegleitenden Fortbildung. Durch die gegenseitige Vermittlung und durch den Erwerb verschiedenartigster Kompetenzen werden also Teilaspekte eines an Inklusion orientierten Unterrichts vermittelt, erworben und überprüft, wobei es letztlich darum geht, in der alltäglichen Praxis die immer noch ausstehende Didaktik eines an Inklusion orientierten Unterrichts zu entwickeln, zu erproben und zu überprüfen. Ein Teilaspekt dieser Unterrichtsentwicklung liegt dann auch in der Klärung der Frage nach der Notwendigkeit und nach dem Umfang des gemeinsamen Unterrichtens. Entgegen einer verbreiteten Auffassung gibt es nämlich auch durchaus Indizien und Argumente dafür, dass das gemeinsame Unterrichten als Dauerzustand der inklusiven Unterrichtsentwicklung nicht förderlich ist und dass eine Zielsetzung des gemeinsamen Unterrichtens darin liegen könnte, seine eigene Notwendigkeit aufzuheben.

Literatur:

Friend, M. & Cook, L. (2009): Interactions: Collaboration Skills for School Professionals. Upper Saddle River, 6th ed.

Hinz, A. (2009): Inklusive Pädagogik in der Schule - veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende?? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 60, H. 5, S. 171-179.

Kreie, G.: Integrative Kooperation. In: Eberwein, H. & Knauer, S. (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik – Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Weinheim, Basel 7. Aufl., 404-411.

Lütje-Klose, B. & Willenbring, M. (1999):  "Kooperation fällt nicht vom Himmel" - Möglichkeiten der Unterstützung kooperativer Prozesse in Teams von Regelschullehrerin und Sonderpädagogin aus systemischer Sicht. In: Behindertenpädagogik 38, H. 1, 2-31.

Lütje-Klose, B. (2011): Inklusion - Welche Rolle kann die Sonderpädagogik übernehmen? In: Mitteilungen - Sonderpädagogische Förderung in NRW 49, H. 4, S. 8-21.

Murawski, W. W.: Collabortive Teaching in Secondary Schools - Making the Co-Teaching Marriage Work! Thousand Oaks.

Schöler, J. (1997): Leitfaden zur Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern - nicht nur in Integrationsklassen. Hamburg

Schwager, M. (2011a): Gemeinsames Unterrichten im Gemeinsamen Unterricht. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 62, H. 3, S. 92-98.

Schwager, M. (2011b): „Gemeinsam statt einsam!“ – Ein Unterrichtsteam bilden und gemeinsam erfolgreich unterrichten. In: Auf dem Weg zur inklusiven Schule – Ideen und Materialien für Lehrkräfte (Loseblattsammlung). Stuttgart, Teil I B.1.

Werning, R.; Urban, M. & Sassenhausen, B. (2001): Kooperation zwischen Grundschullehrern und Sonderpädagogen im Gemeinsamen Unterricht. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 52, H. 5, S. 178-186.

Willmann, M. (2009): Co-Teaching: Gemeinsames Unterrichten als Erweiterung des methodischen Spektrums einer integrativen Didaktik. In: Sonderpädagogische Förderung heute 54, H. 4, S. 343-355.

Wocken, H. (1988a): Kooperation von Pädagogen in integrativen Grundschulen. In: Wocken, H.; Antor, G. & Hinz, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen. Hamburg, S. 199-274.

Wocken, H (1988b): Sonderschullehrer in Integrationsklassen. In: Wocken, H.; Antor, G. & Hinz, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen. Hamburg, S. 185-198.

Wocken, H (2011): Sonderpädagogen in der Inklusion. In: Wocken, H.: Das Haus der inklusiven Schule. Hamburg, S. 199-242.

 

 

 

 

 

Kontakt:

Dr. Michael Schwager

schwager.m@t-online.de

Februar 2013

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/GemeinsamesUnterrichten_Schwager.php