André Frank Zimpel

Geistige Behinderung

Eltern und Fachleute gründeten am 23. November 1958 in Marburg die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“. Der Begriff „geistige Behinderung“ verdrängte unter anderem den Begriff „Oligophrenie“, der einen auf erblicher Grundlage beruhenden oder im frühen Kindesalter erworbenen Intelligenzdefekt bezeichnet. In medizinischer Literatur oder in ärztlichen Gutachten findet diese Bezeichnung jedoch auch heute noch Verwendung. Die griechischen Wörter „oligos“ (ολιγος), deutsch „wenig“, „gering“, „schwach“, und „frenos“ (φρενος), deutsch „Zwerchfell“, „Geist“, „Verstand“, ergeben als Zusammensetzung „Oligophrenia“. Die Verortung des Geistes in das Zwerchfell, dem Ort des Lachens, stammt aus der Antike. Kein Wunder also, dass der Begriff „Oligophrenie“ heute als nicht mehr zeitgemäß und diskriminierend empfunden wird. Ähnliches gilt auch für Begriffe wie „Schwachsinn“, „geistige Retardierung“ usw.

Aber auch die Bezeichnung „geistige Behinderung“ gerät zunehmend in die Kritik. Einige Ortsverbände der Lebenshilfe in Deutschland lassen bereits das unscharfe Attribut „geistig“ einfach weg. Konsequenter ist die Lebenshilfe Österreich. Sie nennt sich nur noch „Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung“.

People First, ein Teil der Selbstbestimmungsbewegung von Menschen mit Behinderung, favorisiert als Alternative für die Bezeichnung „Menschen mit geistiger Behinderung“ den Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“.

Die People-First-Bewegung begann 1968 in Schweden. Eine Elternorganisation tagte unter dem Motto: „Wir sprechen für sie!“ Auf der Tagung beschlossen die Menschen, um die es eigentlich ging, dass sie wohl doch lieber für sich selbst sprechen wollten. Die nächsten Tagungen in England und Kanada hatten eine große Ausstrahlung auf Bewohner des Fairview Training Centers in Salem/Oregon.

1974 schlossen sie sich als „developmentally disabled people“ zusammen, um für sich selbst zu sprechen. Sie bezeichnen sich von nun an als „People with developmental disabilities“, die gemeinsam lernen wollen, wie sie ihre eigene Stimme finden können. In England bezeichnen sich die People First dagegen als „people with learning difficulties“.

In Deutschland befindet sich das Büro des Mensch-zuerst-Netzwerkes in Kassel. Ortsvertretungen gibt es bereits in vielen Städten (Bergisch Gladbach, Berlin, Bielefeld, Dillenburg, Dortmund, Duisburg, Erlangen, Frankfurt, Frankfurt Rhein-Main, Großburgwedel, Halle, Hamburg, Hannover, Kassel, Kehl-Kork, Lüneburg, Mainz, Mannheim, München, Neuss, Reutlingen).

Der traditionelle Weg zur Abgrenzung der geistigen Behinderung von der Normalität ist die Intelligenzmessung: Es gibt Punkte für richtige Testantworten, aus denen dann ein Intelligenzquotient (IQ) ermittelt wird. Doch der Intelligenzquotient ist längst kein Quotient mehr. Er ist das Maß für die Standardabweichung normal verteilter Testwerte: Die durchschnittliche Punktzahl (m) eines IQ-Tests ist üblicherweise mit hundert und die Standardabweichung (s) mit fünfzehn Punkten festgelegt:

-          Normalintelligenz liegt im Bereich von jeweils einer Standardabweichung vom Mittelwert nach links und nach rechts (IQ 85–115),

-          Hochbegabung entspricht einem Wert oberhalb der zweifachen Standardabweichung nach rechts (also IQ über 130),

-          Lernbehinderung einem Wert zwischen einer und einer doppelten Standardabweichung nach links (IQ 85–70) und

-          geistige Behinderung einem Wert unter einer zweifachen Standardabweichung nach links (also unter IQ 70).

Die ICD-10-Klassifikation teilt die geistige Behinderung selbst noch zusätzlich in verschiedene Grade ein:

-          Leichte geistige Behinderung, ICD-10 F70, IQ zwischen 50 und 69.

-          Mittelgradige geistige Behinderung, ICD-10 F71, IQ zwischen 35 und 49.

-          Schwere geistige Behinderung, ICD-10 F72, IQ zwischen 20 und 34.

-          Schwerste geistige Behinderung, ICD-10 F73, IQ unter 20.

-          Dissoziierte Intelligenz, ICD-10 F74, wenn es Differenzen zwischen IQ-Bereichen gibt, wie zum Beispiel zwischen Sprach- und Handlungs-IQ, die mindestens eine Standardabweichung betragen.

-          Andere geistige Behinderung, ICD-10 F78, wenn Intelligenztests wegen weiteren Beeinträchtigungen nicht durchführbar sind.

-          Nicht näher bezeichnete geistige Behinderung, ICD-10 F 79, wenn sich die Intelligenzminderung in keine der oben genannten Kategorien einordnen lässt.

Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) - eine von der WHO erstellte und herausgegebene Klassifikation zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung sowie der relevanten Umweltfaktoren für Menschen – versucht, den einseitig defizitorientierten Ansatz zu überwinden. Sie operationalisiert zusätzlich zu körperlichen Eigenschaften auch Aktivitäten, gesellschaftliche Teilhabe und personenbezogene Faktoren.

Schon 1933 forderte Kurt Lewin (1982) in seiner "Dynamischen Theorie des Schwachsinns", eine defizitorientierte Sichtweise des Phänomens der Behinderung der geistigen Entwicklung zu überwinden. Er plädierte zu Recht für die Beachtung der Gesamtpersönlichkeit. Eine systemische Sichtweise ermöglicht so ein ganzheitliches Verständnis dieses Phänomens. Ein Beispiel für eine solche systemische Sichtweise ist die Isolationstheorie (Jantzen 1979, 1987, Zimpel 2009). Sie bezieht sich auf das harmonische Zusammenspiel zwischen Subjekt, Tätigkeit und Objekt, das unter isolierenden Bedingungen empfindlich gestört sein kann. Aus dieser Perspektive ist es einsichtig, dass isolierende Bedingungen auf verschiedenen Niveaustufen der Persönlichkeitsentwicklung unterschiedliche Auswirkungen haben können.

Je weniger die innere Position einer Persönlichkeit gefestigt ist, umso geringer ist ihre Widerstandskraft gegen isolierende Bedingungen. Konnte sich die innere Position eines Menschen nicht in befriedigenden zwischenmenschlichen Interaktionen festigen und sind Kooperationsmöglichkeiten in einer isolierenden Situation nicht gegeben, passt sich die betroffene Person allmählich an die isolierenden Bedingungen an. Isolationskrisen können massive strukturelle Umbildungen einer Persönlichkeit bewirken. Der Kern psychopathologischer Prozesse bei Anpassung an isolierende Bedingungen ist die Stereotypentwicklung. Diese Entwicklung beruht auf dem Auseinanderfallen von Sinn und Bedeutung.

Seit dem 1. Januar 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention für behinderte Menschen. Dieser UN-Konvention widerspricht die Abschiebung von Menschen in Sonderein-richtungen, wie zum Beispiel Sonderschulen. Erstmals gibt es dagegen ein Beschwerderecht. Zwar setzt die Konvention keine Frist. Dennoch: Früher oder später wird sich die Gesellschaft auf diese grundlegende Veränderung einstellen müssen. Das gilt auch zum Beispiel für das gesamte Schulsystem. Menschen, bei denen eine Behinderung diagnostiziert wurde, werden einen gleichberechtigten Platz in allen gesellschaftlichen Institutionen mit rechtlichen Mitteln verteidigen können. Zwar ist in der deutschen Übersetzung der Konvention noch missverständlich von einem „integrativen Schulsystem“ die Rede. Doch im englischen Originaltext ist zweifelsfrei ein inklusives Schulsystem gemeint. Inklusion fordert die Anpassung der Institutionen an den Menschen mit Behinderung und nicht umgekehrt, die Anpassung des Menschen an die Institution.

 

Literatur:

Jantzen, W. (1979): Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie. Köln

Jantzen, W. (1987): Allgemeine Behindertenpädagogik. Band 1: Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Weinheim

Lewin, K. (1982): Eine dynamische Theorie des Schwachsinnigen. In: Graumann, C. F., Weinert, F.E. und Grundlach, H. (Hrsg.): Kurt-Lewin-Werkausgabe Band 6. Psychologie der Entwicklung und Erziehung. Stuttgart

United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities. Unter: http://www.un.org/esa/socdev/enable/rights/convtexte.htm#convtext, gesehen am 11.August 2009

Weltgesundheitsorganisation, Dilling, H. et al.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel. 6. Auflage, Bern 2008

World Health Organization (Corporate Author): International Classification of Functioning, Disability and Health. Short Version 2001

Zimpel, A.F. (2009): Isolation. Kurzstichwort. In: Dederich, M. & Jantzen, W. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation, Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Band 2: Behinderung und Anerkennung. Stuttgart, 188-192

 

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. habil. André Frank Zimpel

Andre.Zimpel@t-online.de

 

17. August 2009

 

Quellenverweis:  http://www.inklusion-lexikon.de/GeistigeBehinderung_Zimpel.php