Bettina Blanck

Erwägungspädagogik

 

Überblick

Erwägungspädagogik ist eine Pädagogik, die einen spezifischen bewahrenden Umgang mit Vielfalt (insbesondere mit qualitativen Alternativen) in Bildung(swissenschaft), Didaktik, Erziehung(swissenschaft), Lern-/Lehrprozessen, Pädagogik(en), Unterricht usw. verfolgt.[1] Grundlage ist das philosophische Konzept einer Erwägungsorientierung, das sich auf alle Beteiligten, ihre Handlungspraxen sowie die Erforschung dieser Praxen und die Entwicklung von deskriptiven und präskriptiven Konzepten (z. B. Theorien, normative Leitbilder) auswirkt. Dabei führt Erwägungsorientierung vor allem zu einem Einstellungswandel bezüglich der Ansprüche an verantwortbare Entscheidungen und sie fördert ein »Denken in Möglichkeiten« auch im Umgang mit Vorgaben und Entscheidungen anderer. Bedenkt man, wie viel nachwachsende Generationen in entfalteten Wissensgesellschaften pluralistischer Demokratien übernehmen müssen und wie sehr man aufgrund knapper Ressourcen auf fremde, aber auch selbstgesetzte Vorgaben (Routinen, Gewohnheiten) angewiesen ist, um eine Basis bzw. einen Spielraum für eigene Entscheidungen in bestimmten Bereichen zu gewinnen, wird deutlich, wie relevant die Art und Weise der Tradierung und Weitergabe von Konzepten ist. Erwägungsorientierung lenkt dabei den Blick auf die jeweiligen Begründungen der Konzepte, die weitergegeben oder über eigene Entscheidungen entwickelt werden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den jeweils erwogenen problemadäquaten Alternativen. Wie umfassend werden jeweilige Konzepte gegenüber zu erwägenden Alternativen begründet? Das Spektrum mag hier von intuitiven »Bauchentscheidungen«, bei denen man sich keinerlei Erwägens von Alternativen bewusst ist, bis hin zu solchen Entscheidungen reichen, bei denen die erwogenen Alternativen unter Bezug auf eine Regel vollständig angegeben werden können. Auch wenn es im Umgang mit qualitativen Alternativen vermutlich eher selten ist, dass man über eine Regel verfügt, mittels derer zu erwägende Alternativen vollständig angebbar sind,[2] kann das Bewusstsein um diesbezügliche Niveauunterschiede in der Begründbarkeit von Konzepten den Umgang mit eigenen und fremden Konzepten verändern und verantwortbarer gestalten helfen. Im Folgenden werden Konzepte, die aus Entscheidungen als vorerst »beste« Konzepte hervorgegangen sind, als „Lösungen“/„Posi­tio­nen“ bezeichnet, um ihren Ort in jeweiligen Entscheidungszusammenhängen sowie Abgrenzungen zu Erwägungen und deren Bewertungen zu verdeutlichen.       

 

Zum philosophischen Konzept einer Erwägungsorientierung

Wie kann Erwägungsorientierung für Niveauunterschiede in der Begründungsgüte von Konzepten (im Folgenden: Lösungen/Positionen) sensibilisieren? Das Konzept einer Erwägungsorientierung wird von drei leitenden Ideen bestimmt. Die Ausgangsüberlegung, dass jeweilige Lösungen/Positionen umso besser zu verantworten sind, wie man sie gegenüber zu erwägenden Alternativen zu begründen vermag, führt zur Erwägungs-Geltungsbedingung: Erwogene Alternativen sind auch dann zu bewahren, wenn man am Ende eines Entscheidungszusammenhangs angelangt ist und eine bestimmte erwogene Lösung/Position als die (vorerst) »beste« erachtet – jedenfalls dann, wenn man den Anspruch hat, möglichst gut begründen und verantworten zu können. Die jeweils problemadäquaten erwogenen und bewahrten Alternativen (Erwägungsalternativen) werden als eine Geltungsbedingung betrachtet, mit der sich die Begründungsgüte jeweiliger Lösungen/Positionen auch nach ihrer Findung (Genese) einschätzen lässt. Die Erwägungs-Geltungsbedingung ist individuell wie sozial bedeutsam, denn sie hilft, sowohl die Güte jeweiliger eigener Entscheidungen und die hieraus resultierenden Lösungen/Positionen als auch die Güte von Entscheidungen anderer sowie Vorgaben einzuschätzen. Wer die Erwägungs-Geltungsbedingung beachtet, schärft das Bewusstsein für Begrenztheiten und notwendige Verbesserungen jeweiliger Lösungen/Positionen. Im Umgang mit Vorgaben und Entscheidungen anderer macht dies kritikfähiger und weniger anfällig für »Überwältigungen« (Indoktrination, Manipulation usw.). Im Umgang mit eigenen Entscheidungen und selbstgesetzten Vorgaben erhält eine Orientierung an der Erwägungs-Geltungsbedingung selbstkritische Distanzfähigkeit. Erwägungsorientierung kann dann Ausgang für eine aufgeklärte Toleranz gegenüber Andersdenkenden sein, wenn man weiß, dass man die je eigene Lösungs-/Positionsvorliebe nicht mit hinreichenden Gründen gegenüber allen erwogenen Alternativen als »besser« zu begründen vermag. Ein in diese Richtung zielendes anhaltendes Verbesserungsengagement ist die zweite Kernidee des Konzeptes einer Erwägungsorientierung. Das dritte Merkmal einer Erwägungsorientierung folgt daraus, dass man schon aufgrund knapper Zeitressourcen nur weniges umfassend begründet zu entscheiden vermag. Mit den beiden ersten Merkmalen, der Erwägungs-Geltungsbedingung und dem Verbesserungsengagement, ist deshalb iterativ reflexiv erwägend umzugehen. Es ist reflexiv zu erwägen, wo man sich auf Vorgaben (z. B. tradiertes Wissen oder Gewohnheiten) verlassen und damit zeitlich entlasten kann, um in anderen Fragen (umfassend) erwägen zu können. Derartiges reflexives Erwägen steht natürlich vor den gleichen Ressourcenproblemen wie Erwägen auf darunter liegenden Reflexionsstufen. Wesentlich für das Konzept einer Erwägungsorientierung ist es, sich hierfür zu sensibilisieren und im Wissen um jeweilige »Mängel« möglichst verantwortbar zu entscheiden und zu handeln.

 

Potenziale erwägungsorientierter Gestaltung von Bildung

Obwohl die leitenden Ideen des Konzeptes einer Erwägungsorientierung auch alltäglich sind, führt Erwägungsorientierung zu „theoretischen Umgewichtungen“ selbst bei solchen vielfaltsbewussten pädagogischen Konzepten, für die ein erwägender Umgang mit Alternativen bereits eine hohe Relevanz hat:   

 

a) Erschließung von Bildungsinhalten, Umgang mit Nichtwissen und methodische Orientierung

Erwägungsorientierung wirkt sich auf die Erschließung von Bildungsinhalten aus, unabhängig davon, wie groß die Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Lernenden sind. Wo Schülerinnen und Schüler in ihren Entscheidungen herausgefordert werden und „entdeckend“/„forschend“ auf eigenen Wegen lernen können, findet zwar bereits ein erwägender Umgang mit Alternativen und ein Denken in Möglichkeiten statt, wenn Fragen verfolgt werden wie: „Gibt es dafür eine Lösung? Gibt es vielleicht mehrere Lösungen? Finden wir alle Lösungen? Können wir sicher sein, alle Lösungen gefunden zu haben?“ (Lorenz 2002, 16). Wird mit solchen Fragen zudem intendiert, dass Schülerinnen und Schüler lernen, erkennen zu können, wann es „verschiedene Lösungsstrategien für mehrere, gleichermaßen richtige Antwort-Alternativen [gibt; Anm. d. Verf.] und es […] nicht eindeutig entscheidbar [ist; Anm. d. Verf.], welche richtig oder falsch ist“ (Krauthausen 1998, 16), dann wird damit eine ausgeprägte iterativ-reflexiv kritische Haltung auch gegenüber den vorläufigen Grenzen jeweiligen Wissens (Nichtwissen) eingenommen. Dennoch führt erwägungsorientiertes Erwägen aber zu weiteren Entwicklungen entdeckenden/forschenden Lernens. Weil beim erwägungsorientierten Lernen, Erschließen von Themen und Lösen von Problemen die zu erwägenden problemadäquaten Alternativen für gute Begründungen von Lösungen/Positionen unverzichtbar sind, ist eine soziale Vermittlung und der Austausch untereinander über jeweilige individuelle Entdeckungswege und Ergebnisse besonders relevant. Es reicht nicht aus, eine »erfolgreiche« Lösung für ein Problem gefunden zu haben. Der Erfolg misst sich mit daran, wie sich eine jeweilige Lösung/Position möglichst methodisch-systematisch gegenüber zu erwägenden Lösungsalternativen begründen lässt. Deshalb gilt es zu versuchen, möglichst systematisch-methodisch einen gemeinsamen Erwägungshorizont aufzubauen, in dem jeweilige Lösungen gut gegenüber zu erwägenden Alternativen begründet werden können. Auf diese Weise wird die Entfaltung jeweiliger Subjektivität hin zu mehr Intersubjektivität motiviert und der Blick auf methodische Unterschiede und jeweiliges Nichtwissen gelenkt. Dies gilt auch dort, wo nicht entdeckend Bildungsinhalte erschlossen werden können, sondern diese vorwiegend übernehmend angeeignet werden müssen. Wenn zu übernehmende Lösungen/Positionen „kontrastierend“ gegenüber jeweils erwogenen Alternativen vermittelt werden, kann neben dem »Übernahmemodus« der Lernenden zugleich ihr »Entscheidungsmodus« insofern mit angesprochen werden, als die Lernenden durch eine Angabe erwogener Alternativen jeweilige Begründungsniveaus von Lösungen/Positionen besser einschätzen und offene Fragen (Nichtwissen) oder Verbesserungsbedarfe leichter identifizieren sowie sich mit ihren jeweiligen Lösungen/Positionen begründeter verorten können. Für das Verfolgen von Fragen nach jeweils problemadäquaten Methoden des Erwägens von Alternativen bietet es sich in Schule und Unterricht an, die Vielfalt der Fächer zu nutzen, um verschiedene methodische Weisen des Erschließens, Bestimmens, Abgrenzens, Sortierens und Bewahrens von zu erwägenden Alternativen vergleichend zu unterscheiden und in ihren jeweiligen Verbesserungsbedarfen einschätzen zu lernen. Es macht einen Unterschied, ob man z. B. zu erwägende Alternativen intuitiv sammelt oder beispielsbezogen begriffliche Klärungen vornimmt, d. h. auch unterschiedliche Verwendungsweisen gleicher Termini (Worte/Ausdrücke) klärt, ob man zu erwägende Alternativen in einer Liste ordnet, in Klassifikationen systematisiert oder Kriterien bezogen kombinatorisch vollständig erfasst. Derartige Methodenunterschiede sind selbst erwägungsorientiert zu erforschen (s. Stichwort „Vielfaltskompetenzen“ im Inklusion-Lexikon), wobei aus erwägungsorientierter Perspektive ein wesentliches Kriterium der Unterscheidung von Methoden ist, inwiefern sie einen approximationsfähigen Umgang mit zu erwägenden Alternativen ermöglichen (vgl. Blanck 2002, 118-134).

 

 

b) Umgang mit Kontroversen

Obwohl man mit pädagogischen Konzepten, die sich für „deliberation in education“ einsetzen sowie politische Bildung ermöglichen und demokratische Kompetenzen fördern wollen, viel Wert auf einen erwägenden Umgang mit Vielfalt und alternativen Positionen/Lösungen legt, verändert Erwägungsorientierung auch hier das pädagogische Setting. So wird zwar z. B. mit dem so genannten „Kontroversitätsgebot“ des „Beutelsbacher Konsens“ – nach dem das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch kontrovers in Schule und Unterricht zu behandeln ist, – explizit die Frage nach zu erwägenden kontroversen Alternativen gestellt. Aus Sicht einer Erwägungspädagogik stellt sich die Frage nach kontroversen und zu erwägenden Alternativen aber gerade auch bei einem Konsens, der mit dem Anspruch vertreten wird, gut begründet zu sein (vgl. ausführlich in Blanck 2012, III. 2.2 u. III. 4.3). Ohne Erwägungs-Geltungsbedingung kann es schwierig werden, einen Konsens mit guten Gründen hinreichend verteidigen zu können, sollte er dann doch einmal in Frage gestellt werden. Das kann ggf. demokratiegefährdend sein.   

 

c) Umgang mit Misslingen und lernförderliche »Fehlerkultur«

Ein Wissen um erwogene problemadäquate Alternativen erschließt und integriert nicht nur Kontroverses auf der Erwägungsebene. Auch schließlich als „falsch“, „negativ“ oder „misslungen“ bewertete mögliche Lösungen/Positionen können problemadäquate zu erwägende Alternativen sein. Sie machen die Erwägungs-Gel­tungs­bedingung vollständiger und lassen die gesetzte Lösung/Position dementsprechend besser begründen. Pädagogische Konzepte, in denen Fehler auch als Helfer im Lernprozess oder Fenster auf den Lernprozess betrachtet werden, scheinen ähnlich anzusetzen. In der „Theorie des negativen Wissens“ (Oser/Spychiger 2005) gilt Falsches (negatives Wissen) sogar als ein Abgrenzungswissen und Schutzwissen für das Richtige (das positive Wissen). Im Unterschied zum negativen Wissen als Abgrenzungs- und Schutzwissen wird aber von einer Erwägungspädagogik der Beitrag des problemadäquaten Misslungenen und Falschen zum Begründen und Verantworten von jeweiligen Lösungsmöglichkeiten betont: Eine zwar richtige Lösung/Position, zu der keine erwogenen Alternativen angegeben werden können, weist aus erwägungsorientierter Perspektive ein niedriges Begründungsniveau auf. Das mag für bestimmte Problemlagen ausreichen, ein Wissen um diesen Mangel macht aber z. B. vielleicht vorsichtiger und korrekturbereiter im Durchsetzen und Realisieren dieser Lösung/Position. Umgekehrt mag ein gutes Begründungsniveau mit entfalteter Erwägungs-Geltungsbedingung z. B. zu einem besonderen Engagement für diejenige Lösungsmöglichkeit motivieren, die sich methodisch nachvollziehbar und umfassend gegenüber zu erwägenden (auch als „falsch“ bewerteten) Alternativen begründen lässt. Insofern führt Erwägungsorientierung nicht zu einer gleichgültigen Haltung eines Beliebigkeitspluralismus, was man angesichts des häufig umfangreichen Nichtwissens und niedriger Begründungsniveaus von jeweiligen Lösungen vielleicht vermuten könnte.

 

Erwähnte Literatur:

 

(Weitere Literatur zu im Text angesprochenen Konzepten vgl. das Literaturverzeichnis in Blanck 2002, 2012.)

 

Blanck, Bettina: Erwägungsorientierung, Entscheidung und Didaktik. Stuttgart 2002.

Blanck, Bettina: Vielfaltsbewusste Pädagogik und Denken in Möglichkeiten – Theoretische Grundlagen und Handlungsperspektiven. Stuttgart 2012.

Fischer, Aloys: Deskriptive Pädagogik (1914). In: Kreitmair, Karl (Hg.): Aloys Fischer. Leben und Werk. Band 2: Arbeiten zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft und Berufserziehung. München 1950, 5-29.

Krauthausen, Günter: Lernen – Lehren – Lehren lernen. Zur mathematik-didaktischen Lehrerbildung am Beispiel der Primarstufe. Leipzig u. a. 1998.

Lorenz, Jens Holger: Appetit auf Mathematik machen. In: lernchancen 5(2002)28, 16-21.

Oser, Fritz/Spychiger, Maria: Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim/Basel 2005.

Tenorth, Heinz-Elmar: Erziehungswissenschaft. In: Benner, Dietrich/Oelkers, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, 341-382.

 

 

Kontakt:

 

PD Dr. Bettina Blanck

Institut für Erziehungswissenschaft / Universität Paderborn

bettina.blanck[at]upb.de

 

März 2013

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Erwaegungspaedagogik_Blanck.php



[1] Die verschiedenen Verwendungen der Termini „Pädagogik“ und „Erziehungs-“, „Bildungswissenschaft“ usw. im Verlauf der Geschichte von Pädagogik und Erziehungswissenschaft sind für das Konzept einer Erwägungsorientierung als ein Streit um Worte irrelevant und man kann insofern auch von erwägungsorientierter „Erziehungswissenschaft“ oder von erwägungsorientierter „Bildung(swissenschaft)“ usw. sprechen. Zu verschiedenen Verwendungsweisen der Termini „Pädagogik“ und „Erziehungswissenschaft“ vgl. z. B. Heinz-Elmar Tenorth (2004) oder Aloys Fischer (1914/1950). Nicht irrelevant sind Auseinandersetzungen um grundlegende Unterscheidungen, wie z. B. zwischen präskriptiven/normativen und deskriptiven Konzepten, die mit jeweiligen Wortwahlen verbunden sind. Diese Unterscheidungen lassen sich aber ohne Festlegung auf bestimmte Wortverwendungen der Termini „Pädagogik“, „Erziehungs-“ und „Bildungswissenschaft“ usw. beachten.

[2] Ein Beispiel für die Möglichkeit regelorientierten vollständigen Erwägens von problemadäquaten (allerdings quantitativen!) Alternativen ist die 3-Fach-Schüttelbox, mit der im Mathematikunterricht der Grundschule die Zahlzerlegung geübt werden kann (Blanck 2012, 244ff.).