André Frank Zimpel

Entwicklung

In Anbetracht seiner universellen Bedeutung und Bildkraft ist das Wort „Entwicklung“ erstaunlich jung. Das mittelhochdeutsche Wort „wickeln“ ist verwandt mit dem altindischen Wort „vagura“ für „Fangstrick“ oder „Netz“ und dem lateinischen Wort „velum“ für „Segel“, „Hülle“ oder „Tuch“. Das Verb „entwickeln“ ist eine Prägung des 17. Jahrhunderts. Doch erst im 18. Jahrhundert verwendete man es im übertragenden Sinne für etwas, das sich stufenweise herausbildet oder entfaltet.

Das relativ späte Auftauchen des Wortes „Entwicklung“ illustriert, dass die Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten vor allem von der Ontologie (deutsch: Seinslehre) bestimmt war. Das Bewusstsein für Entwicklungsprozesse wie die Evolution, Phylogenese, Historie und Ontogenese stand lange Zeit im Schatten der Ontologie.

Im 19. Jahrhundert erhielt der Begriff „Entwicklung“ dann auch noch eine phototechnische Bedeutung. Erst jetzt kam die Idee auf, etwas zu entwickeln, zum Beispiel einen Film. Ursprünglich bezieht sich Entwicklung jedoch auf einen aktiven Prozess eines lebendigen Systems, wie etwa die Metamorphose eines Schmetterlings aus einer Raupe. Aus der verpuppten Raupe wickelt sich der schlüpfende Schmetterling förmlich selbst, kurz: Er entwickelt sich.

Schon immer bestaunten Menschen die unübersichtliche Vielfalt der Lebewesen. Vor Charles Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie gab es für die Frage nach der Ursache für diese Vielfalt keine wissenschaftlichen Antworten. Ja, es gab nicht einmal ein Interesse für unumkehrbare iterative Entwicklungen, die sich über so lange Zeiträume erstrecken. Darwin (1984, 5) schrieb dazu selbst als Zeitzeuge am Ende des 19. Jahrhunderts: „Bis vor kurzem glaubte die große Mehrzahl der Naturforscher, die Arten seien unveränderlich und jede einzelne sei für sich erschaffen worden, eine Ansicht, die sehr geschickt verteidigt wurde.“

Die klassische Physik verstand sich im 17. bis 18. Jahrhundert anfänglich als mechanische Wissenschaft. Dabei orientierte sie sich hauptsächlich an der Umkehrbarkeit (Reversibilität) mathematischer Gleichungssysteme. Die Umlaufbahnen der Planeten galten ihr als zeitloses und ewiges Zeichen für das Wirken der Gravitationsgesetze. Von historischen Phänomenen abstrahierte diese Wissenschaft dabei bewusst. Ihr war anfänglich jede Form eines wissenschaftlichen Entwicklungsgedankens fremd.

Die Ontologie (Seinslehre) und Genealogie (Entwicklungslehre) hatten ein unterschiedliches Gewicht. Letztere beschränkte sich vor Darwin hauptsächlich auf Ahnenforschung und Geschlechterkunde. Das Bewusstsein für Entwicklungsprozesse, wie zum Beispiel Evolution, Phylogenese, Historie und Ontogenese, stand lange Zeit im Schatten der Seinslehre (Zimpel 2006).

Erst relativ neue Strömungen sowohl in der Mathematik als auch in der Physik stellen sich dem Entwicklungsgedanken. Entwicklung ist insofern also auch ein Schwerpunkt aktueller mathematisch-naturwissenschaftlicher Theoriebildungen. Sie hat jedoch gegenüber der Jahrhunderte in die Waagschale werfenden ontologischen Tradition einen schweren Stand.

Die mechanische Denkweise begründete mittlerweile eine mehr als dreihundertjährige Tradition, Beobachtungen auf das Wirken von zeit- und damit entwicklungsunabhängigen (reversiblen) Gesetzen zurückzuführen. Seitdem bemächtigt sie sich Schritt für Schritt aller Bereiche des praktischen und intellektuellen Zusammenlebens der Menschheit. Diese Denkweise zeigt sich beispielsweise auch in der ontologischen Festschreibung von Behinderungen und in sich selbsterfüllenden Zukunftsprognosen bei der Einweisung in Sonderschulen.

Die Faszination, die von einer mechanischen Denkweise ausgeht, liegt in der Übereinstimmung mathematischer Gleichungen mit experimentellen Befunden. Sobald die Anfangsbedingungen gegeben sind, bestimmen die Gesetze der klassischen Mechanik scheinbar für alle Zeiten die Zukunft, so wie sie einst auch die Vergangenheit bestimmten.

Die Gleichungssysteme, die mechanische Vorgänge beschreiben, sind umkehrbar. Sie können Bewegungen beschreiben, setzen aber voraus, dass diese Bewegungen unabhängig von der Zeit sind. Diese Umkehrbarkeit (Reversibilität) steht im Widerspruch zur Unumkehrbarkeit (Irreversibilität) von Entwicklungen (Zimpel 2008, 113-114).

Doch es gibt eine Alternative zu umkehrbaren Gleichungen: Iterationen können unumkehrbare (irreversible) Prozesse beschreiben, wie sie für zeitabhängige Entwicklungen typisch sind (Prigogine 1988, 264-271): „Während die großen Schöpfer der abendländischen Astronomie das Regelmäßige und Unabänderliche an den Bewegungen der Himmelskörper betonten, erkennen wir jetzt, dass eine solche Qualifikation bestenfalls nur für einen sehr begrenzten Bereich wie etwa die Bewegung der Planeten gilt. Statt Stabilität und Harmonie zu finden, entdecken wir, wo wir auch hinschauen, Entwicklungsprozesse, die zu Verschiedenartigkeit und wachsender Komplexität führen“ (ebenda, 25).

Die stammesgeschichtliche Entwicklung von Lebewesen und die Evolution einzelner Merkmale fasst man unter dem Begriff „Phylogenese“ zusammen. Der aus dem Griechischen stammende Begriff setzt sich aus den Wörtern „phyle“ (φυλη) für „Stamm“ und „genesis“ (γενεσις) für „Werden“ zusammen. Bei der Entschlüsselung der komplizierten Zusammenhänge in Entwicklungsprozessen helfen iterative Computersimulationen. Ein berühmtes Beispiel ist der Hyperzyklus von Manfred Eigen (Eigen &Winkler, 260-265). Die Simulation besteht aus einer kreiskausalen Anordnung von Zyklen, die als Modelle für das Verhalten von RNA- und Proteinmoleküle dienen. Sie zeigen, wie man sich den Übergangsbereich zwischen chemischer und biologischer Evolution vorstellen kann.

Der Begriff „Ontogenese“ setzt sich zusammen aus „ontos“ (οντως) für „wirklich“ und „tatsächlich“ sowie „genesis“ (γενεσις) für „Werden“ und „Entstehung“. Er bezeichnet die Individualentwicklung von Menschen, Tieren und anderen Lebewesen. Eine zentrale Frage der Ontogenetik ist: Wie kann der strukturelle Wandel einer lebenden Einheit ohne Verlust ihrer Organisation vonstattengehen? Auch hier hilft eine iterative Computersimulation zu einem tieferen Verständnis: Der Minimalfall eines lebendigen Systems sind Moleküle, die ihre eigene Zellstruktur im Stoffwechsel mit der Umwelt erschaffen und beibehalten. Diesen Minimalfall eines lebendigen Systems bezeichnet der chilenische Biologe und Kybernetiker Humberto Maturana als „autopoietische Einheit“. Der Begriff „Autopoiesis“ leitet sich aus den griechischen Wörtern „autos“ (αυτος) für „selbst“ und „poieo“ (ποιεω) für „schaffen“ ab.

Es handelt sich um ein elementares Modell für Sensomotorik, wenn man die Störung einer Membran als Wahrnehmung und das Schließen dieser Membran als kompensierende Bewegung interpretiert (vgl. Maturana 1985, S. 157 - 169, Zimpel 2000, S. 194, Zimpel 2003, S. 10 - 12).

Maturana entwickelte seine Idee von der autopoietischen Einheit auf der Grundlage der Eigenwerttheorie (à Kybernetik) des Kybernetikers Heinz von Foerster (1991, 236-241). Auf diese Theorie bezog sich in seinem Spätwerk auch Piaget, der sich neueren Denkweisen in den Naturwissenschaften zuwandte. Dabei handelt es sich vor allem um Entwicklungsmodelle, denen eine iterative Darstellung unumkehrbarer Entwicklungsprozesse zugrundeliegt. Piaget (1976, 11, 180) berief sich dabei auf Prigogine und Foerster. Letzterer entwickelte mit der Theorie der Eigenwerte und des Eigenverhaltens Piagets Formelsprache weiter. Die herausragende Bedeutung dieser Formel für ein besseres Verständnis der geistigen Entwicklung habe ich in der Monographie „Der zählende Mensch“ ausführlich dargestellt (Zimpel 2008, 104 -121). Für eine inklusive Pädagogik und Didaktik, die sich an der Zone der nächsten Entwicklung (à Diagnostik) orientiert, ist Piagets Entwicklungsmodell von außerordentlicher heuristischer und praktischer Bedeutung.

 

Literatur:

Darwin, Ch. (1984): Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. 2. Auflage. Leipzig

Eigen, M. & Winkler, R. (1990): Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. 9. Auflage. München

Foerster, H.v. (1991): Understanding understanding. Essays on cybernetics and cognition. New York

Maturana, H. (1985): Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. 2. Auflage. Braunschweig

Piaget, J. (1976): Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Stuttgart

Prigogine, I. (1988): Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften. 5. Auflage. München

Zimpel, A.F. (2000): Gedanken schlagen gegen Fingerspitzen. In: Katzenbach, D. & Steenbuck, O. (Hrsg.): Die Bedeutung Piagets für die Erziehungswissenschaft. Frankfurt, 147-207

Zimpel, A.F. (2003): Beiträge zu einer nicht-linearen Wissenstheorie. In: Lernende Organisation. Heft 14, 6-18.

Zimpel, A. F. (2006): Eigenwert und Entwicklung. In: Albrecht, F., Jödecke, M. & Störmer, N. (Hrsg.): Bildung, Lernen und Entwicklung. Bad Heilbrunn, 44-57

Zimpel, A. (2008): Der zählende Mensch. Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben. Göttingen

 

 

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. habil. André Frank Zimpel

Andre.Zimpel@t-online.de

 

17. August 2009

 

Quellenverweis:  http://www.inklusion-lexikon.de/Entwicklung_Zimpel.php