Kerstin Ziemen

Das Verhältnis von Inklusiver Pädagogik und Disability Studies – Herausforderungen und Perspektiven

 

1. Disability Studies

Der Begriff „Disability Studies“ formierte sich zunächst im angloamerikanischen Raum aus der politischen Behindertenbewegung heraus, so in den USA und England in den 1980er Jahren, danach in vielen anderen Ländern. Unzählige Veröffentlichungen entstanden, Lehrstühle etablierten sich, die „Disability Studies“ als Wissenschaftsdisziplin entwickelte sich. „Der Widerstand gegen hergebrachte Exklusionspraktiken[...] und die Behandlung von behinderten Menschen als bloße Fürsorgeobjekte, der sich im Laufe der 1960er und 1970er Jahre weltweit formierte[...], führte nicht allein zu öffentlichem Protest und dem Aufbau von Netzwerken und Praxisprojekten, sondern auch zu Ansätzen eigener akademischer Reflexion“ (Waldschmidt 2009, 126).

Zumeist waren die Initiatoren selbst betroffene Menschen, z.B. in den USA Irving Kenneth Zola (1935-1994), Medizinsoziologe und selbst behindert, in England Michael Oliver (1990, 1996) Sozialwissenschaftler und ebenfalls behindert und viele andere mehr – einschließlich der deutschen Juristin Theresia Degener – spielten eine prominente Rolle (vgl.  Waldschmidt 2009, 126).

In Deutschland wird der Beginn der Disability Studies mit den Tagungen „Der (im)perfekte Mensch“ des deutschen Hygienemuseums in Dresden (2001) und „Phantomschmerz“ (2002) gesetzt, wobei bereits seit den 1970er Jahren kritische Studien zu Behinderung betrieben wurden (vgl. ebd. 127).

Ziel der Disability Studies ist es, „erstens eine Aufdeckung und Rekonstruktion von gesellschaftlichen und kulturellen Modellen, Theorien, „Bildern“ von Behinderung, von Sinnzuschreibungen, wissenschaftlichem und Alltagswissen, die in unsere Vorstellungen, unser Denken, unser Wissen über Behinderung eingehen und diese formen. Zweitens widmen sich die Disability Studies der Analyse, wie diese hervorgebracht, produziert, gesellschaftlich implementiert und tradiert werden“ (Dederich 2007, 2). Markus Dederich spricht hier von „radikaler Umkehr der Perspektive“ (ebd.), entgegen der als abweichend oder pathologisch zu kennzeichnenden Wahrnehmung auf Menschen mit Behinderung. Behinderung wird „strikt als Relation“ (ebd.) verstanden und kann „nur vor dem Hintergrund von Nichtbehinderung gedacht, bezeichnet und problematisiert werden“ (Dederich 2007, 2f.). Eine der zentralsten Erkenntnisse ist die, dass „Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern in den verschiedensten alltäglichen, kulturell und wissenschaftlichen Diskursen hergestellt wird. Von besonderem Interesse dabei sind u.a. die Herausbildung gesellschaftlicher Deutungsmuster und Institutionen, spezifischer Praktiken, die Sprache (etwa Metaphern und Redewendungen), kulturelle Symboliken, Formen medialer Repräsentation in Bildern, Texten und Filmen“ (ebd. 3). Die Forschung in den Disability Studies versteht sich grundlagentheoretisch und richtet sich mit kritischem Blick auf das Phänomen „Behinderung“. „Die Ausgangsfrage[...] lautet nicht: Wie soll die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgehen? Vielmehr tritt man in den Disability Studies gewissenermaßen einen Schritt zurück und fragt grundsätzlich: Wie und warum wird  - historisch, sozial und kulturell – eine Randgruppe wie die der `Behinderten` überhaupt hergestellt“ (Waldschmidt 2009, 125). Die Disability Studies können vergleichend zu anderen Disziplinen wie Gender Studies, Queer Studies, Diversity Studies, Post Colonial Studies etc. (vgl. ebd.) als Querschnittsdisziplinen betrachtet werden.

Als zentral für die Disability Studies ist das Favorisieren des sozialen Modells von Behinderung in Abgrenzung zum individuellen oder medizinischen Modell. „Behinderung ist[...]ein soziales Geschehen, das nicht zwangsläufig stattfinden muss und ist nicht einfach das Ergebnis `personeller Indisponiertheit‘“ (Bruhn/Homann 2009, 232). Nach Bruhn/Homann mit Verweis auf Mairian Corker (1998) gibt es drei Ausrichtungen: a) die „materialistische Ausprägung [...], die in Großbritannien verwurzelt ist[...]Hauptaugenmerk liegt auf sozialen, politischen und[...]ökonomischen Bedingungen, aus denen Behinderung durch bestehende Barrieren oder die Verweigerung, Barrierefreiheit herzustellen, als Unterdrückung hervorgeht“, b) „eine kulturwissenschaftliche Forschungsorientierung begegnet vor allem in den USA. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Bedeutungen und Repräsentation[...]“, c) „ein Ansatz, in dem von Behinderung betroffene Menschen als kulturelle Minderheitengruppe oder Gemeinschaft mit einer alternativen Kultur aufgefasst werden. Zu denken ist hier insbesondere an die Gehörlosenkultur“ (Bruhn/Homann 2009, 236).

„Mit Bezug auf das kulturelle Modell und die sozio-kulturelle Konstruktion von Behinderung kritisiert Rohrmann [...] die anhaltende Individualisierung von Behinderung. Er verweist darauf, dass die kategoriale Bestimmung von Behinderung nicht nur diskriminierend sei, sondern gleichzeitig durch die ihr eigene Komplexitätsreduzierung gesellschaftliche Bedingungen verdecke. So würden die Probleme nicht nur individualisiert, sondern ontologisiert und getreu der medizinischen Auffassung von Behinderung eine körperliche Schädigung als ursächlich angenommen“ (Haas 2012, 407). Herausfordernd ist es, die Konstruktion und Produktion von Behinderung unter Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Ansätze zu analysieren. In der Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass sich die Disability Studies mit der Produktion und Konstruktion von Behinderung befassen; Interdisziplinarität beanspruchen; die Betroffenenperspektive explizit aufnehmen.

 

2. Inklusion und Inklusive Pädagogik

Der Begriff der Inklusion ist bereits seit den 1970er Jahren im englischen Sprachraum (inclusion) gebräuchlich und entwickelte sich zu einem Standardbegriff internationaler Organisationen, wie der UNO und UNESCO (vgl. Hinz 2009, 171). Im deutschsprachigen Kontext etablierte er sich v.a. im Rahmen der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen und deren Ratifizierung durch Deutschland (2009) (vgl. Ziemen 2012). „Inklusion (lat. Inclusio, Einschließung) meint die Überwindung der sozialen Ungleichheit, der Aussonderung und Marginalisierung“ (Ziemen 2013, 47) bzw. zielt auf Bedingungen und Verhältnisse, die allen Menschen ohne Ausnahme Zugang, Teilhabe und Teilnahme an allen gesellschaftlich relevanten Feldern sichert. Inklusion verfolgt das Ziel, Exklusionsrisiken zu erkennen und Exklusionspraktiken in Bildungsinstitutionen und Gesellschaft zu überwinden. Darüber hinaus ist Inklusion mit dem Anspruch verbunden, vielfältige Differenzen (Differenzlinien) zu berücksichtigen (so nicht nur Behinderung, sondern auch unterschiedliche religiöse, weltanschauliche Zugänge; kulturelle, lebensgeschichtliche Hintergründe, Gender; verschiedene sexuelle Orientierungen u.a.m.), die zu Ausschluss bzw. Marginalisierung führen können.

In den bisher geführten Diskussionen (so Feuser 2010) lassen sich unterschiedliche Ausrichtungen und Diskursstränge ausmachen:

„1. Im erziehungswissenschaftlichen Sinne als das zu erreichende Ziel, ausgehend von einer auf Selektion und Ausgrenzung basierenden Schul- und Unterrichtswirklichkeit;

2. im soziologischen Diskurs, welche die Exklusions- und Inklusionsverhältnisse, die Ein- und Ausschlussprozesse von Menschen aus und in die unterschiedlichsten funktional differenzierten Bereiche wahrnimmt;

3. im Bereich internationaler Konventionen, wobei es um den Transfer internationale Sprachräume (geht, d.V.), mit dem dann im Feld der Politik gehandelt werden muss“ (vgl. Feuser 2010, 18).

 

Auch wenn Georg Feuser konstatiert, dass diese „Bereiche nicht beliebig ineinander übersetzt werden können „und der Begriff (Inklusion, d.V.) eine je eigene Funktion hat, so kann das als Verbindende eine „auf Anerkennung und Differenz basierende menschliche Gemeinschaft ohne Ausgrenzung“ (vgl. ebd.) wahrgenommen werden. (vgl. Ziemen 2012, 1). „Inklusion und Exklusion (sind, d.V.) relative Begriffe, die jeweils ohne ihren Gegenbegriff nicht sinnvoll denkbar sind“ (Dederich 2006, 11).

Inklusion zielt auf die Veränderung bestehender Verhältnisse, Strukturen und Bedingungen. Im Kern geht es dabei darum, Verschiedenheit zu achten und wertzuschätzen und Teilhabe und Teilnahme aller zu sichern.

 

Inklusive Pädagogik

Inklusive Pädagogik umfasst Theorien und Modelle der Bildung, Erziehung, Begleitung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen (i.W. auch Erwachsenen) unter Berücksichtigung derer, die von Marginalisierung, Etikettierung, Ausschluss, Stigmatisierung betroffen oder bedroht sind mit dem Ziel, Exklusionsrisiken und –praktiken zu erkennen und zu vermeiden, um Partizipation in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Die Unterschiedlichkeit der Menschen wird als Chance für gemeinsame und individuelle Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aller betrachtet und wertgeschätzt. Inklusive Pädagogik schafft Möglichkeitsräume für Entwicklung, für Bildung und Erziehung, stellt Modelle von Unterstützung und Assistenz zur Verfügung.

Die Dichotomisierung z.B. Behinderung-Nicht-Behinderung soll überwunden werden.

Der Weg dorthin, bzw. die damit erforderliche kritische Analyse bleibt in der Diskussion bislang außen vor. Hier könnte die Debatte an die Erkenntnisse aus den Disability Studies anschließen.  Derzeit scheitern Dekategorisierungsversuche, da weithin (Schule ist nur ein Beispiel) Unterstützung bzw. Hilfen an die Kategorie „Behinderung“ gebunden sind, so auch das viel zitierte „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (vgl. Haas 2012, 407f.). Die Lösungsvorschläge wie systemische Ressourcenzuweisungen, lernprozess- und strukturniveauorientierte Angebote, entwicklungsbezogene Diagnostik, entwicklungslogische bzw. reflexive Didaktik konnten bislang z.B. das „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ nicht beheben (vgl. ebd.). Haas konstatiert, dass dieses nicht mehr ein verwaltungstechnisches, sondern sonderpädagogisches Problem darstellt und aus pädagogischer Perspektive die „genannten Ansätze individualisierte, exklusionsvermeidende und systemische Unterstützungssysteme“ (ebd.) sind, das „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ jedoch „eine Analyse von Machtfragen“ (ebd.) beinhaltet. D.h., soll die Umsetzung der inklusiven Idee nicht nur Idee oder Vision bleiben, muss die Analyse von Macht- und Ohnmachtsstrukturen, Exklusionsrisiken und -praktiken, von (struktureller) Gewalt, Paternalismus, Ausgrenzungs- und  Diskriminierungspraktiken erfolgen.

Zu fragen ist, wie gesellschaftliche Felder (hier im Sinne Bourdieus), wie Ökonomie, Recht, Medizin, Pädagogik die Kategorie „Behinderung“ entstehen lassen oder haben entstehen lassen und wie diese bis heute an der Produktion von Behinderung beteiligt sind.

Derzeit greifen die Diskussionen im Kontext von Inklusion die kritischen Fragen und Widersprüche nur marginal auf, wie z.B.: die „Barrieren in den Köpfen, Normalisierungsdruck, ablehnende Einstellungen“ (vgl. Ottmar Miles-Paul, kobinet-Nachrichten).

Ausgeblendet bleiben auch die von den Disability Studies fokussierten „gesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen [...], die behinderte Menschen als soziale Randgruppe überhaupt erst entstehen lassen“ (Waldschmidt 2009, 126).

Darüber hinaus werden widersprüchliche Entwicklungen, wie sie sich bspw. deutlich an der sozialen Situation von Menschen mit Trisomie 21 zeigen lassen, weitgehend unberücksichtigt. Zum einen findet  derzeit in Deutschland bei über 95% bei Trisomie 21 ein Schwangerschaftsabbruch statt. Zum anderen hat sich das „Bild“ von Menschen mit Trisomie 21 deutlich positiv verändert. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln zumeist ein hohes Maß an Lern- und Entwicklungspotential. Menschen mit Trisomie 21 erwerben Universitätsabschlüsse, Doktortitel, sind als Lehrer, in Hotels und Restaurants etc. tätig.

 

Exkurs: „Kultur-historische Schule“ und die materialistische Behindertenpädagogik

In Deutschland wurden die Ideen der „kultur-historischen Schule“ in den 1970 er Jahren durch Wolfgang Jantzen und Georg Feuser im Rahmen des Entwurfs einer materialistischen Behindertenpädagogik, die sich immer politisch und gesellschaftskritisch verstanden hat, aufgegriffen und systematisch weiterentwickelt.

Wygotski arbeitete heraus, dass Behinderung kein negatives Faktum ist:

In strikter Abkehr, ausschließlich die biologische Ebene eines Menschen zu betrachten, konstatiert Wygotski bereits 1924, dass der allergrößte Fehler der ist, „die Auffassung von der kindlichen Anomalie nur als Krankheit“ (Wygotski 1975, 69) zu sehen. „Die kindliche Anomalie (ist, d.V.)[...] das Ergebnis anomaler gesellschaftlicher Bedingungen“ (ebd.).

Insbesondere im Kontext der Behindertenpädagogik ist in den letzten 40 Jahren unter Rückgriff auf konstruktivistisches, systemtheoretisches Denken, der „kultur-historischen Schule“, „gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und einer entsprechenden Analyse der Lebenssituation auch schwerst beeinträchtigter Menschen[...] eine subjektwissenschaftliche Pädagogik (entstanden, d.V.)[...], durch Entmythologisierung und Entideologisierung vor allem des Dogmas der mit dem Begriff der Behinderung in seiner gesellschaftlichen Wahrnehmung gekoppelten Defektheit der betroffenen Menschen“ (Feuser 2000, 146). Entgegen dem Mainstream wird die Isolation als entscheidender Faktor für das Entstehen von Behinderung herausgearbeitet und grundgelegt, dass Behinderung nicht zwangsläufig Folge der individuellen Schädigung ist. Auf die Analyse von politischen, ökonomischen resp. gesellschaftlichen Bedingungen und der Lebensgeschichte und Lebenssituation betroffener Menschen wurde dabei Hauptaugenmerk gerichtet.

 

 

Exkurs: Soziologie Pierre Bourdieus

Pierre Bourdieu beschäftigt sich nicht explizit mit dem Phänomen „Behinderung“ bzw. „Inklusion“.

Seine bildungssoziologischen Analysen jedoch und die damit verbundene Frage des (sozial ungleichen) Zugangs zur Bildung, seine Theorien zum Feld, Habitus und Kapital sind geeignet dazu, die damit einhergehenden Positionen in Feldern und damit Macht- und Ohnmachtsstrukturen bzw. Zugänge zu Feldern zu analysieren.

Die grundlegende These Bourdieus ist die, dass „die Vorstellung von der sozialen Welt keine gegebene Tatsache ist,[...]kein bloßes Abbild[...], sondern das Resultat unzähliger schon vollzogener und aufs neue zu vollziehender Konstruktionshandlungen[...]Sie hat sich in den Gemeinplätzen niedergeschlagen[...], die den Sinn der Welt ebenso erzeugen, wie sie ihn registrieren, diesen Kennworten, die zur Produktion der sozialen Ordnung beitragen, indem sie das Denken über diese Welt informieren und die Gruppen schaffen, die sie bezeichnen und die sie mobilisieren“ (Bourdieu 1997, 130). Das Phänomen Behinderung als natürliche Gegebenheit muss infrage gestellt werden. Bei genauerer Analyse taucht es als konstruiertes Objekt auf, welches nur auf der Basis vermeintlicher gesellschaftlicher und kultureller Normvorstellungen; im Kontext historischer Entwicklungen und der jeweiligen überdauernden habituellen Repräsentation zu erklären ist.

 

Die Herangehensweise Bourdieus als Reflexion auf das Objekt und die Entfaltung der Verhältnisse und Bedingungen, die diesem inhärent sind, führen schließlich dazu, bislang Verborgenes und Unentdecktes aufzudecken.

Behinderung als soziale Konstruktion ist das Produkt der kollektiven, unaufhörlich in den Individualgeschichten reproduzierten Geschichte, die in den Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata der Menschen eingeschrieben ist und dem Anschein nach natürliche Selbstverständlichkeit hat (vgl. Ziemen 2003, 6). Diese habituellen Repräsentationen von „Behinderung“ sind schwer zu verändern. Nur durch eine kritische Analyse gesellschaftlicher, ökonomischer, sozialer Bedingungen und konkreter Erfahrungen von Menschen, die unter den Bedingungen von Behinderung leben, können Veränderungen im Denken, Wahrnehmen und Handeln initiiert werden.

Die Etikettierung und Stigmatisierung als „geistige Behinderung“, „zurückgeblieben“, „Idiot“, „schwachsinnig“, „Kretin“ etc. verweist auf die jeweilige historische Epoche und deren Menschenbilder, die wiederum bestimmte Formen der Therapie, Behandlung, Exklusion bzw. Inklusion hervorgebracht haben. Die Analyse der sozialen Situation von Familien mit Kindern mit Behinderung führte zur Erkenntnis, dass sich die soziale Entwicklungssituation sowohl des betroffenen Kindes als auch der Familie verändert (vgl. Feuser/Ling/Ziemen 2013, 350). Gekennzeichnet ist die Situation der Familie v.a. durch die zumeist im Rahmen der Diagnose erfahrenen „sozialen Regelverletzungen“, durch die sich entwickelnden Widersprüche bzw. den  Erwerb von zusätzlichen Kompetenzen (vgl. Ziemen 2002).

 

3. Das Verhältnis von Disability Studies und Inklusion

Disability Studies grenzen sich von „Not-Disability Studies“ ab (Dederich 2007, mit Verweis auf Linton 1998, 136). Sie verstehen sich als Instanz radikaler Kritik“ (Dederich 2007, 4), auch um „das Bewusstsein dafür wachzuhalten und zu schärfen, dass Behinderte aufgrund von[...]Marginalisierungs- und Abwertungsprozessen zu einer Minderheit gemacht werden“ (ebd.). Disability Studies rücken Behinderung als soziales, politisches, historisches, kulturelles, gesellschaftliches Phänomen (vgl. Dederich 2007, 4) in den Mittelpunkt.

Inklusion dagegen berücksichtigt verschiedene Differenzkategorien oder –linien, wie bspw. religiöse, weltanschauliche und kulturelle Hintergründe, Geschlecht, verschiedene Fähigkeiten und Be-Hinderung. Beabsichtigt wird, bestehende Dichotomisierungen aufzuheben bzw. Bedingungen und Strukturen so zu verändern, dass alle Menschen an allen gesellschaftlich relevanten Feldern teilhaben können.

Inklusion wird als Zielaspekt der Disability Studies betrachtet. Die Debatte um Inklusion kann durch die Analysen und Erkenntnisse der Disability Studies befruchtet werden, da Exklusionsrisiken und -praktiken darüber sichtbar werden können. Inklusion zielt auf veränderte Bedingungen und Strukturen von Systemen und Handlungsfeldern, was wiederum eine kritische Analyse dieser voraussetzt.

Inklusive Pädagogik und Disability Studies orientieren sich an  sozialer Ungleichheit; Inter-Sektionalität; an partizipativen und inklusiven Forschungs- und Handlungsansätzen. Die Analysen zu Macht- und Herrschaftsstrukturen, Studien zu gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, zu Bildungs- und Erziehungsprozessen und deren Konsequenzen für die Erziehungs- und Bildungschancen sind zukünftig weiter auszuloten.

 

Literatur

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Rohrmann, E. (2010): Diagnostik als soziale Konstruktion von Krankheit, Behinderung und sozialer Wirklichkeit. In: U. Schildmann (Hrsg.): Umgang mit Verschiedenheit in der Lebensspanne. Behinderung – Geschlecht – kultureller Hintergrund – Alter/Lebensphasen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 306-311.

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Ziemen, K. (2003): Integrative Pädagogik und Didaktik. Aachen: Shaker.

Ziemen, K. (2012): Inklusion. Online verfügbar unter http://www.inklusion-lexikon.de/Inklusion_Ziemen.php [Zugriff: 19.08.2014].

Ziemen, K. (2013): Kompetenz für Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

 

Kontakt:
Univ.-Prof.’in Dr. Kerstin Ziemen
kziemen@uni-koeln.de
August 2014

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/DisabilityStudies_Ziemen.php