Volker Kriegel

Bewegung

Bewegung beschreibt allgemein die Fähigkeit, mittels des eigenen Körpers die eigene Person zu erleben. In der Geistigbehindertenpädagogik wird der Terminus unter Bezugnahme auf Marhold (1965) insgesamt als wahrzunehmendes Ergebnis im motorischen Erscheinungsbild von Steuerungs- und Funktionsprozessen konkretisiert - Ausdruck dessen seien nach Fath (2007, 230 f.) auch Bezeichnungen wie Senso- oder Psychomotorik, die in ihrer Bedeutungsentwicklung für die Vermischung verschiedener Anteile innerhalb der Handlungsregulation stehen.

Da das Verständnis des Bewegungsbegriffes als geschichtlich-kulturelles Phänomen somit in eine Vielfalt von Sinnbezügen eingebettet ist, muß sich die Definition zwangsläufig auf exemplarische Aspekte beschränken. Diese korrespondieren mit personellen und situationsabhängigen Voraussetzungen, die beim Vollzug eines Bewegungsaktes innerhalb komplexerer Bewegungshandlungen motorisch konstituierend wirken. Zum einen meint dieses die räumliche und zeitliche Veränderung der körperlichen Position und Lage, zum anderen impliziert es aber auch bereits jenen existentiellen Zustand, der eintritt, wenn durch eigene Lernaktivität und Leistung das persönliche Verhalten unter definierbaren Umständen aus der Ruhe in Veränderung kommt und dadurch einen Entwicklungsprozess bewirkt.

Insofern „sich bewegen“ etymologisch hier „sich zu etwas entschließen“ oder „sich zu etwas veranlassen“ bedeutet, kann sich eine pädagogische Bestimmung des Bewegungsbegriffes nicht nur auf biologische Veranlagung und Fähigkeit berufen; sondern dessen Bildungsrelevanz muss sich vielmehr auf die persönliche Handlungskompetenz richten, die es mittels Bewegungsförderung dann allen zu Erziehenden ermöglicht, zu mehr Autonomie zu gelangen, eigene Ressourcen und Potentiale zu aktuieren sowie in der „Begegnung mit sich selbst“ die eigene Persönlichkeit zu entdecken – auch und gerade bei Kindern mit komplexen und schweren Beeinträchtigungen erscheint dieser Aspekt evident (vgl. Fornefeld 1997, 122ff.).

Moderne Bewegungsförderungskonzepte gehen heute von der motorischen Lernfähigkeit und Bildbarkeit selbst bei hochgradiger geistiger Behinderung aus und thematisieren die individuellen Bewegungskompetenzen, ganz so wie inzwischen von Empowerment, Selbstbestimmung und Inklusion, von Selbst-Bemächtigung, Selbstvertretung, Teilhabe und Anerkennung behinderter Menschen in unserer Gesellschaft die Rede ist (Theunissen 2009).

Als didaktisches Leitprinzip verkörpert Bewegung eine Form der Selbsttätigkeit. Sie artikuliert sich spontan, aber auch durch äußere Stimulation. Bei der sonderpädagogischen Förderung oder im Gemeinsamen Unterricht sollte dem Bewegungsbedürfnis von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung überall dort ganz besonders entsprochen werden, wo die Lernsituation und die Entwicklungsvoraussetzungen der Lernenden es hinreichend erlauben, weil kalkulierbare Risiken bestehen. Bewegungsanforderungen schulen immer das Problembewusstsein; sie befähigen nicht nur zur Selbständigkeit im Denken, Handeln und Beurteilen der eigenen Möglichkeiten im Verhältnis zu anderen, sondern die Erziehungskräfte entfalten sich mindestens ebenso über die innere Anteilnahme in Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit.

Aus der intrapersonellen Perspektive des materiellen Daseins begründet sich diese Fähigkeit zur Bewegung sowohl durch physikalische als auch chemische und biologische Prozesse, die sozialen Einflüssen unterliegen, indem sie mit der Lebenswelt durch den Vollzug von Bewegungshandlungen interagieren. Unterschieden werden dabei

1)      Feinmotorische Bewegungen wie die der Hände, der Füße oder des Kopfes, die eine hohe Präzision erfordern, von kleinen Muskeln unterstützt werden und so geschickte Manipulationen wie beim Essen mit den Fingern gestatten.

2)      Grobmotorische Bewegungen wie die der Gliedmaßen und des Rumpfes, die meist mit einem bedeutenderen Kraftaufwand großer Muskelgruppen verbunden sind und im Zusammenspiel mit der Feinmotorik beim Stehen, Sitzen oder Beugen des Körpers  koordiniert werden.

3)      Zyklische Bewegungen, welche die Wiederholung einer elementaren Phasenstruktur aufweisen und beim Gehen, Laufen oder Schwimmen zu bemerken sind; ebenso azyklische Bewegungen, die durch Strukturvarianten einzelner Bewegungsakte wie dem Reichen der Hand, der Übergabe eines Gegenstandes oder von ähnlichem gekennzeichnet sind.

4)      Sukzessive Bewegungskombinationen, die durch eine Folge zweier oder mehrerer Bewegungsanteile kombiniert und zu einem ästhetischen Gesamterscheinungsbild der Bewegung „verkoppelt“ werden.

5)      Simultane Bewegungen, die durch die Verschränkung mehrerer, auch gleichzeitig und parallel zueinander strukturierter Teilhandlungen im Gesamtverlauf eines komplexeren Bewegungsgeschehens gekennzeichnet sind (Schnabel/Thieß 1999, 149 f.).

Die soziale Leitfunktion bei der Ausführung der zu bewältigenden Umweltanforderungen widerspiegelt im Bewegungsakt die eigene Persönlichkeit, ihre Leistungsfähigkeit und die Zweckdienlichkeit des eigenen Verhaltens, so dass sich über die Werturteilsbildung in der Auseinandersetzung mit der Umwelt das persönliche Anspruchsniveau, die eigenen Persönlichkeitseigenschaften ebenso wie die Kommunikation in der sozial vermittelten Eigenaktivität aneignen, gestalten und formen lassen.

Gleichwohl richtet sich die Pädagogik bei Menschen mit geistiger Behinderung auf Beeinträchtigungen der motorischen Handlungsfähigkeit, insbesondere der Grundfähigkeiten, die sich sowohl koordinativ als auch konditionell sowie bezüglich der Stabilität und Flexibilität des Stütz- und Bewegungsapparates verifizieren lassen. Das sollte allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass Bewegung primär durch Verhalten und nicht durch statische Fähigkeiten oder Eigenschaften bestimmbar ist. Die körperliche Bewegung ist ein Strukturphänomen. Was eine Bewegungsausführung wirklich ausmacht, läßt sich letztlich nur durch das eigene Erleben ihrer Effizienz über Sinnesleistungen zu begreifen.

 

Literatur:

Fath, K.: Motorik. In: Handlexikon Geistige Behinderung, hrsg. von G. Theunissen, W. Kulig und K. Schirbort. Stuttgart: Kohlhammer 2007.

Fornefeld, B.: „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung geistig Schwerstbehinderter in sozialer Integration. Reflexionen im Vorfeld einer leiborientierten Pädagogik. Aachen: Wissenschaftsverlag 1997.

Schnabel, T.; Thieß, G. Lexikon der Sportwissenschaft. Bd. 1, Berlin: Sportverlag 1999.

Theunissen, G.: Empowerment und Inklusion behinderter Menschen. Freiburg im Breisgau 2009.

 

Kontakt:

Dr. Volker Kriegel

vkriegel@uni-koeln.de

14.04.2009

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Bewegung_Kriegel.php