Helmwart Hierdeis

Autonomie

Als Autonomie wird die dem Menschen in der abendländischen Denktradition zugeschriebene Fähigkeit bezeichnet, die Normen seines Handelns selbst zu bestimmen und eigenverantwortlich in die Tat umzusetzen. Für Immanuel Kant ist dieses Vermögen dann vernünftig, wenn die subjektiven Entscheidungsgrundlagen generalisierbar sind (Kategorischer Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“.). Autonomie kann nur relational verstanden werden; denn ihre Praxis ist jeweils gebunden an einen Komplex von anthropogenen, historischen, rechtlichen, sozialen, ökonomischen und pädagogischen Faktoren (z.B. Lernfähigkeit, Autonomiebedürfnisse von Mitmenschen, Herrschaftsverhältnisse, Werte, Normen, Gesetze, Ressourcen für die Existenzsicherung, Erziehungskonzepte und -praktiken). In den sog. „aufgeklärten“ Gesellschaften hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Autonomie des einzelnen Menschen rechtlich zu schützen (Menschenrechte, Verfassung), gesellschaftlich zu ermöglichen (Demokratie, Mitbestimmung) und pädagogisch zu fördern ist (Spielräume für eigene Entscheidungen, Übertragung von Verantwortung, Aufbau von symmetrischen Beziehungen, Einübung in kommunikatives Handeln, politische Mitwirkung). In der Geschichte der Pädagogik gab es besonders im 20. Jahrhundert Bewegungen, die einer stärkeren Autonomie der Heranwachsenden zum Durchbruch verhelfen wollten (Reformpädagogik, antiautoritäre bzw. nicht-repressive Erziehung, Antipädagogik). Da Autonomie immer in einem gesellschaftlichen und damit in einem institutionell-organisatorischen Rahmen zu verwirklichen ist, hat die Pädagogik in ihrer Theorie Verhältnisse, die der Entwicklung autonomen Denkens und Handelns entgegenstehen, zu kritisieren (Kritische Theorie) und in ihrer Praxis zu einem realistischen Autonomieverständnis (im Sinne einer „Balance“ zwischen Anpassung und Freiheit) beizutragen. Ihr besonderes Augenmerk gilt Menschen und Menschengruppen, die aufgrund von anthropogenen, sozialen und kulturellen Einschränkungen daran gehindert werden, ihr Recht auf Autonomie im vollen Umfang wahrzunehmen (Inklusive Pädagogik).

 

Literatur:

Czuma, H. (1997): Autonomie. In: Hierdeis, H./Hug, Th. (Hg.): Taschenbuch der Pädagogik Bd. 1. 5. Aufl. Hohengehren, 100ff.

Habermas, J. (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt

Hierdeis, H. (2010): Autonomie. In: Wiater, W. u.a. (Hg.): Pädagogische Leitbegriffe im deutsch-italienischen Vergleich. Hohengehren, 24f. (Der voranstehende Text bildet eine modifizierte Fassung.)

Kant, I. (1913): Kritik der praktischen Vernunft. In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe Bd. V. Berlin

 

Kontakt:

Em. O.Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis

Helmwart.Hierdeis@web.de

 

Juni 2010

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Autonomie_Hierdeis.php