Helmwart Hierdeis

Anthropologie

Begriff: Anthropologie steht, allgemein gefasst, für die Gesamtheit von Aussagensystemen, die aus dem methodischen Nachdenken über den Menschen und aus der Forschung hervorgegangen sind und hervorgehen. Sie erweitern, ergänzen und modifizieren sich ständig. Angesichts der „doppelten Historizität“, die besagt, dass sowohl der Mensch als auch die Theorien über ihn geschichtlich sind, verbieten sich Aussagen mit dem Anspruch der Endgültigkeit. Auffassungen, die ein zeitloses „Wesen“ des Menschen postulieren, gelten als wissenschaftlich nicht haltbar. Die Geschichte der Erforschung des Menschen ist daher notwendigerweise eine Geschichte permanenter Revisionen.

 

Geschichte: Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst und seinesgleichen zum Gegenstand von Wahrnehmung, Beobachtung und Reflexion zu machen, grenzt ihn von anderen höheren Organismen ab. Zusammen mit seiner zentralnervös bedingten überragenden Lernfähigkeit hat sie ihn, bei allen durchaus vorhandenen Parallelen zu anderen Lebewesen, zu einer besonders erfolgreichen Rolle im evolutionären Selektionsprozess und zu einer spezifischen Menschheitsgeschichte als Kulturgeschichte geführt. Zeugnisse systematischer Reflexion über das, was den Menschen ausmacht, finden sich zunächst in der Philosophie der Klassischen Antike, in besonderer Weise bei Plato (Präexistenz der menschlichen Seele; der Mensch als Erkennender; Eros als Streben nach Vollkommenheit) und Aristoteles (Wechselbeziehung von Leib und Seele; Unsterblichkeit des Geistes; Ausrichtung des Menschen auf eine höchste Idee). Diese Vorstellungen werden im Frühen und Hohen Mittelalter durch die Kirchenväter (v.a. Augustinus) und durch die Scholastik (v.a. Thomas von Aquin) christlich modifiziert (Mensch als Ebenbild Gottes). Mit dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften und mit der Erweiterung der wissenschaftlichen Forschungsrichtungen in der Neuzeit hat die Fülle der anthropologischen Daten und Theorien zugenommen, zugleich die Zahl der Disziplinen, die anthropologisch bedeutsame Informationen liefern oder eigene Anthropologien entwickeln (z. B. Neurowissenschaften, Medizin, Biologie, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Gattungs- und Mentalitätsgeschichte, Politologie ...). Die genannten Wissenschaften stellen je nach Forschungsgegenstand und methodischer Ausrichtung (z.B. empirisch, hermeneutisch, phänomenologisch) die (relative) Umweltoffenheit und (relationale) Freiheit des Menschen, seine neuronale Steuerung, seine Lernfähigkeit, sein Anpassungsvermögen, seine Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und seine Gebundenheit an das Lebensalter, seine Geistigkeit, seine Geschichtlichkeit, seine Sozialität und Kulturalität, seine Fähigkeit zur Selbst- und Weltkonstruktion, seine Erziehungsbedürftigkeit, seine biologische, soziale und kulturelle Vielfalt ... in den Vordergrund. Die Vielzahl anthropologischer und anthropologisch relevanter Informationen zwingt die „regionalen“ Theorien methodisch zur Interdisziplinarität und in der Systematik zu Integrationsversuchen. Für die Pädagogische Anthropologie als Integrationswissenschaft bedeutet das, dass sie ihre zentralen Fragen nach der „Menschwerdung des Menschen“ und damit nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten menschlichen Lernens stets im Wissenshorizont der übrigen Anthropologien reflektiert und ihre Erkenntnisse im Diskurs mit ihnen zur Geltung bringt.

 

Praxisrelevanz: Die Auffassung vom Menschen bestimmt, wie die Konfliktgeschichte verdeutlicht (Kolonialisierung; Religionskriege; Rassismus; Ethnozentrismus usw.), das Selbstverständnis von Kulturen und Gesellschaften und die Bewertung davon abweichender Menschen und Systeme. Sie beeinflusst auch den subjektiven und kollektiven pädagogischen Umgang und das erzieherische Handeln. Das wird in der Erziehungsgeschichte u.a. an der Wirksamkeit „optimistischer“ bzw. „pessimistischer“ Menschenbilder sichtbar. Der pädagogische Handlungsdruck begünstigt monokausale und lineare Erklärungen und Begründungen sowie einseitige Auslegungen anthropologischer Daten etwa im Hinblick darauf, was als geschlechts-, alters-, kultur- anlage- oder milieuspezifisch anzusehen ist. Umso wichtiger für humane, gerechte, angemessene und förderliche pädagogische Beziehungen sind informationsreiche und deskriptive anthropologische Theorien, die sich als überholbar verstehen. Sie halten das im Einzelfall Sinnvolle und Mögliche offen und können nicht zur Legitimation für pädagogische Handlungen herangezogen werden, die einzelne Menschen oder Gruppen bevorzugen oder benachteiligen.

 

Literatur:

Gebauer, G. u.a. (1989): Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften oder Versuche einer Neubegründung. Reinbek.

Hassenstein, B. (1987): Verhaltensbiologie des Kindes. 2. Aufl. München/Zürich.

Hierdeis, H. (2010): Anthropologie. In: Wiater, W. u.a. (Hg.): Pädagogische Leitbegriffe im deutsch-italienischen Vergleich. Hohengehren, 18f. (Der vorstehende Text ist eine modifizierte Fassung.)

Liedtke, M. (1991): Evolution und Erziehung. Ein Beitrag zur integrativen pädagogischen Anthropologie. 3. Aufl. Göttingen.

Roth, G. (2003): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt.

Roth, H. (1966/1971): Pädagogische Anthropologie. Bd. 1 und 2. Hannover.

Wulf, Ch. (Hg.) (1994): Einführung in die Pädagogische Anthropologie. Weinheim/Basel.

 

Kontakt:

Em. O.Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis

Helmwart.Hierdeis@web.de

 

Juni 2010

 

Quellenverweis: http://www.inklusion-lexikon.de/Anthropologie_Hierdeis.php